Die Zuspitzung der Hingabe erlebt die Seele zwar als ein „Zusammenbrechen und das Entschwinden meiner Kraft“, verschafft sich aber gerade dadurch ihre „höchste Sicherheit“. Überhaupt ist das Erstrebenswerteste für die Seele das große Nichts, für das Mechthild in der deutschen Sprache mit dem Wort „Wüste“ das Fundament für eine mystisch-poetische Denkfigur der Leere in der Fülle legt und somit das mystische Paradoxon benennt. So spricht sie beispielsweise in poetisch-enigmatischer Zuspitzung von den zwölf Dingen, die an die Kabbala erinnern und die Wüste (die innere Schwärze der zu Gott reisenden Seele) ausmachen und zwar in einer für ihren Stil typischen Mischung aus Parallelismus, Anrufung und Begehrensimperativ:
Du sollst das Nichts lieben,
du sollst das Etwas fliehen,
du sollst für dich sein
und sollst dich an niemanden wenden,
du sollst unermüdlich tätig sein
und doch von allen Dingen frei,
du sollst die Gefangenen losbinden
und die Selbstherrlichen bändigen,
du sollst die Kranken erquicken
und selbst doch nichts besitzen,
du sollst das Wasser der Pein trinken
und das Feuer der Liebe mit dem Holz der Tugenden entzünden!
So bleibst du in der wahren Wüste zu Hause.
Die „wahre Wüste“, eine Art freiwilliges inneres Exil der spirituellen Dunkelheit und des Nicht-Wissens, hat um 1580 der spanische Dichter und Mystiker Juan de la Cruz mit der Formulierung der „dunklen Nacht der Seele“ noch treffender zusammengefasst. Auch den englischen Arzt und Naturphilosophen Robert Fludd hat die Schwärze der geistigen Wüste beschäftigt. Bereits dreihundert Jahre vor Kazimir Malewitsch hat er ein schwarzes Quadrat gezeichnet, das an seinen vier Rändern Strukturen von einander überkreuzenden Fäden aufweist, durch die leicht das Licht durchscheint. Auch Mechthilds (Gottes Worte verwaltende) lyrisches Ich weiß von dieser Andeutung des Lichtes und dem Durchscheinen des Lichtes inmitten der spirituellen Dunkelheit, auf die auch das Buch Sohar verweist, wenn es darin heißt: „Als der Verborgene der Verborgenen sich offenbaren wollte, begann er einen leuchtenden Punkt hervorzubringen. Bevor dieser leuchtende Punkt nicht zum Durchbruch und zum Vorschein gekommen war, war der Unendliche (En soph) ganz verborgen und verbreitete kein Licht.“
Aber Mechtilds lyrisches Ich weiß auch um die Tiefe und Schwärze des Nichts. Die Arbeit und Mitwirkung der Sinne, die es als „Kämmerer der Seele“ benennt, wird vor diesem Hintergrund umso wichtiger. Ein direkter Austausch wird so benannt: „Jetzt will ich für eine Weile vom Tanzen ausruhen. Verlasst mich! Ich will dorthin gehen, wo ich mich abkühlen kann.“ Unweigerlich bewegt sich die Seele auf diesem Weg als Braut vorwärts zu ihrem Bräutigam und spricht in diesem Zusammenhang von der „kindgemäßen Liebe“.