Das Auge hinter dem Auge - Marica Bodrožić
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Das Bewusstsein ist ein elastisches Gefüge, bevor es aber Sprache wird, muss es eine Reise durch den Körper machen. Marica Bodrožić legt in diesen Poetikvorlesungen ihren eigenen Denk- und Schreibraum frei und zeigt, auf welche Weise etwa die Hand an der „Republik der Poesie“ mitarbeitet. Leben und Schreiben, Leser und Autor bilden für sie in diesen 
sprachphilosophischen Umkreisungen eine Einheit, die sich vor dem Hintergrund der Stille ereignet. Das Erhören der Worte, die das Wesenhafte wieder hervor holen, ohne sich zu wiederholen, formieren einen geistigen Kern in diesen Betrachtungen und verweisen auf Autoren wie Francis Ponge oder Edmond Jabès, die diesen Kern mitgeformt haben. „Das Auge hinter dem Auge“ ist hier ein Verbündeter der schöpferischen Kraft und Synonym für das innere Schweigen, das am Geheimnis teilhat. Aus Schnittmengen von Schönheit und Sprache ergeben sich Spielformen des poetischen Erwachens und führen zu jenem „Fallschirmsprung aus dem Schlaf“, von dem Tomas Tranströmer spricht. Diese inneren Ereignisse beschreibt Marica Bodrožić sehr genau und zeigt, wie sich uns autonome Sprach(t)räume zusprechen, wie sie uns lesen und beschriften, während wir glauben, dass es sich umgekehrt verhält. (Text: Otto Müller Verlag)

Das Auge hinter dem Auge
Betrachtungen
Otto Müller Verlag, 2015

Am Ende des schmalen und doch so reichen Betrachtungsbändchens steht in der „Selbstauskunft“ niedergeschrieben, was gleichwohl für Marica Bodrožić auch am Anfang von allem steht: die Liebe. Die Fürsprache der Liebe zu allem und in allem, was (möglich) ist, erscheint als ein breiter Fluss, der Leben und Schreiben durchströmt. Nicht nur ihr eigenes, sondern auch in anderem Leben und Schreiben findet sie „Kieselsteine“ des gleichen Flussbettes. Kein Unterschied wird gemacht in der Zuneigung zu Worten und Texten französischer, deutscher oder russischer Dichter und Denker. Kein Unterschied zwischen Texten von Schriftstellern oder Mystikern. Was Bodrožić gelingt, ist eine Zusammenschau des ewigen Lebens- und Textflusses aus derselben Quelle, die über die Vielfalt der Themen und Schauaspekte hinausgeht, sie aber trotzdem nebeneinander bestehen lässt. Alles hat Platz – seinen Platz – im endlos scheinenden, sich stetig verändernden Wortstrom.

„Du wirst aus dem, was du siehst, deine Schrift, aus dem, was dich sieht, deine Lektüre machen.“ Jabés’ Beobachtung geht im „Satzfluss“ von Bodrožić auf, welcher ihr Leben „nicht nur im Außen, sondern auch grundlegend und in der Tiefe verändert“. So wie der Fluss nicht stillstehen kann, kommt auch der Interaktionsprozess zwischen dem unsichtbaren ‚Innen‘ und dem sichtbaren ‚Außen‘ an kein Ende. Diese Selbst- und Weltbeobachtung kann ohne die Entdeckung des Schauenden, ohne „Das Auge hinter dem Auge“, nicht auskommen. „Erprobt“ wird dieser Blick von Kindesbeinen an und wächst mit der Zeit zum „großen Auge“ heran, welches „zusieht, darin handelnd ist, ein Betrachter, der hinter allem steht, innerlich unbeteiligt, alles sehend“. Kindlicher „Erfindergeist“ gibt einem die „Kieselsteine“ in die Hand, durch deren Wurf sich persönliche und kosmische Kreativität mischen. Instinktiv weiß Bodrožić, dass man sich Kindheit, Fantasiewelt und eine Zeit ohne Uhr bewahren muss, um sich selbst entdecken zu können und in diesem „zeitlosen Raum“ auch das Andere, Fremde im ‚Außen‘ zu erforschen.

Sandy Scheffler, literaturkritik.de

Marica Bodrožić

Selbstauskunft zur Poetikdozentur, die diesen Betrachtungen zugrundeliegt

 

Der Sommer ist in die Sprache eingekehrt, die Liebe in die Sonne der Wörter, «alles prüfe der Mensch», die Liebe ganz besonders, sprechend ganz besonders durchliebe ich die Welt: liebe Julia Kristeva genauso wie Teresa von Ávila, ich liebe Colette genauso wie Hannah Arendt, ich liebe Giordano Bruno genauso wie Kafka, ich liebe Kieselsteine genauso wie Schachbrettblumen, ich liebe Esel genauso wie den Heiligen Antonius von Padua, ich liebe den wildes Englisch redenden «Pnin» genauso wie Camus‘ Liebe für Hölderlin, ich liebe «… und offen gab/ Mein Herz, wie du, der ernsten Erde sich», ich liebe den Satz, dass ein Nein ein ganzer Satz ist, ich liebe Meister Eckharts Bitte an Gott, ihn bitte von Gott freizumachen, ich liebe «Die Traditionen der Zukunft», verfasst von Saint-Pol-Roux, der aussieht wie ein langhaariger Heiliger, ein heiler, ganzer Mensch, ich liebe ganze Menschen, ich liebe echte Gesichter, die in sich ruhen, ich liebe Hände genauso wie Füße, ich liebe Leute mit Ideen dazu, ich liebe die Mathematik des Universums genauso wie die «Wörter», die Jean Paul Sartre und Gott-weiß-wen-noch-alles in der Kindheit retteten («Sehen Sie doch einmal: Ich war allein inmitten der Erwachsenen, ich war die Miniatur eines Erwachsenen, und ich las Erwachsenenbücher»), ich liebe den Zu- und Sprachstand der Gnade, ich liebe Friederike Mayröcker und dass sie der Zeit nicht erlauben will, in ihre Seele zu dringen, ich liebe Bücher, selbst dann, wenn ich sie nicht lese, in ihnen schlafen ja andauernd Selbsterlösungen, die den Wörtern Form schenken, ich liebe Jean-Jacques Rousseau und ich möchte wiedergeboren werden, um an ihn zu erinnern – für den Fall, dass ihn die Welt vergessen sollte, ich liebe und verstehe ihn, weil er nicht die Kindheit eines Kindes hatte, ich liebe Anna Achmatowa genauso wie Marina Zwetajewa genauso wie Joseph Brodsky, weil er sich mit schweigenden Verben umgibt, mit hungrigen Verben, mit nackten Verben, mit Hauptverben, mit tauben Verben, auch solchen, die in Kellern leben, ich weiß gar nicht, wie man jemanden nicht lieben kann, der ein Gedicht über Verben geschrieben hat und in dem die «zukünftige Zeit» vorkommt, noch mehr liebe ich Jakobsleitern, mit denen man den Himmel der inneren Liebe besteigen kann, um zu sehen, dass «Vor Gott» jeder bloß «blass ist», «bloß, nicht groß», wie es Brodsky sagt und ich denke an «Geist und Materie» und frage mich, wohin einen allein die Liebe führt, ich liebe die Ruhe der Gedanken, also Gedankenruhe und ruhende Gedanken liebe ich genauso wie das, was oben gleich ist wie unten und außen echt wie innen, deshalb liebe ich Anna Maria Jokl, sie hat sechs Leben, jeder hat viele Leben, auch ich, der Anfang dieses Palimpsests, den man mein Leben nennt, nahm seinen Ausgang am Mediterran, ich liebe es, dass ich ausgerechnet dort zur Welt kam, im August, unter dem blauen Schutz des Sommerhimmels, in brütendster Augusthitze, stechend heiß war’s sogar um 0:10 Uhr, so auf die Minute meine Ankunftszeit : damit ich die lange Nacht durchqueren kann, die das Leben am Anfang immer ist, vierzig Jahre bin ich schon hier, vielleicht ist es jetzt sechs Uhr morgens in meinem Leben.

Marica Bodrožić ist nicht nur eine wunderbare Erzählerin, sondern auch eine wunderbare Essayistin!

Jan Bürger, Marbacher Literaturarchiv