Der Spieler der inneren Stunde - Marica Bodrožić
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„Träume werden nicht erwachsen. Träume sind ohne Zeit. Die Geschichte von Jelena Felder ist es auch ohne Zeit. Dennoch hat ihr Abschied eine eigene Stunde. Auf der Straße der Bilder herrscht das Gleichmaß. Aber welches Gedächtnis hat der Abschied, welche Farbe, welchen Geruch?“ Jelenas erste Zugfahrt beginnt mit einer Lüge: Die Vorbereitungen für die Ausreise nach Deutschland werden dem nichtsahnenden Großvater als Zahnarztbesuche ausgegeben. Die Koffer sind gepackt. Der bevorstehende Abschied vom ersten Land, der ersten Sprache wirft einen Schatten auf die Gesichter der Kinder. Und doch ist da diese Vorfreude auf ein Land, das „weiter als Italien“ liegen soll.

Auf die Abreise folgt später, viel später der Wunsch, an den Ursprung zurückzukehren. Der Doppeldecker bringt das zehnjährige Mädchen nach Dalmatien, einmal und dann immer wieder, zur Ferienzeit, bis sich das Ziel verliert und das alte Leben nur noch in der eigenen Vorstellung vorhanden ist. Bald gibt es in der ersten Heimat niemanden mehr, der Jelena kennt.

In ihrem ersten Roman erzählt Marica Bodrožić von einem immerwährenden Abschied – und erzählt die Geschichte einer Familie, die aus ihrer Zeit fällt und in einer anderen ankommt, von Biographien, die uns durch ihre Fremdheit bezaubern und zu Komplizen der Erinnerung machen. (Text: Rainer Weiß, Suhrkamp Verlag)

Der Spieler der inneren Stunde
Roman
Suhrkamp, 2005

Leseprobe

Die Verwandlung ging über in ein Zündeln des Lichtes, niemand war hier Herrscher, und so kam ihr die vom Großvater aufgesagte Bibelstelle in die Ohren. Ein sirrender Ton hob die beiden Sätze ins rechte Ohrgehäuse. Das Ohr ging auf, eine allein mit Wünschen zu öffnende Tür. Dort lebte eine lange Lichtschnur, die das Kind später zu malen begehrte. In der Lichtschnur zog sich ein ummäntelter Gang in die Länge, er führte in alle Richtungen, und doch musste kein Weg gleich begangen werden. Die hinausführenden Schilder waren durchsengt von helle und die Namen nur schwer zu lesen. Ein leichtes Heben und Senken der Schnur war zu sehen, die nun, ganz deutlich vom rechten Ohr ausgehend, Teil des eigenen Kopfes geworden war. Noch während die Bewegungen gleich dem Wuchs einer Pflanze in Zeitraffer ins Innere des Lichts hinausverströmt waren, hatte das Kind erst leise, dann ins Flüstern übergehend und sogleich laut formuliert Denn ein jeder Baum wird an seiner Frucht erkannt. Man pflückt ja nicht Feigen von den Dornen, auch liest man nicht Trauben von den Hecken. Beim letzten Wort war die Schnur zum linken Ohr gewandert und mündete dort in einem violetten Punkt. Im Violett verschmolzen beide Sätze, und die Farben sprachen in Schüben, wie mit einem vibrierenden Atmungsorgan.