Die Rebellion der Liebenden - Marica Bodrožić
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Marica Bodrožić geht in sechs sehr persönlichen Essays der Frage nach, wie wir gerade unter dem Eindruck alltäglicher Gewalt und fortlaufenden Unrechts zu einer neuen Offenheit im Denken, zu mehr Menschlichkeit gelangen können.

 

Überall auf der Welt wird das Recht auf Unversehrtheit mit Füßen getreten, jeden Tag aufs Äußerste missbraucht. Was braucht es, um Veränderungen anzustoßen? Wer nur das Alte beibehalten will, wählt zwangsläufig einen Weg ins Unglück. »Um Veränderung wahrnehmen und sie zulassen zu können, ist es vonnöten, die eigene Verletzlichkeit zu kennen«, schreibt Bodrožić. Ihre Essays sind ein eindrucksvolles Plädoyer für ein friedliches Miteinander – in der geistigen Tradition von Martin Luther King oder Erich Fromm. »Wir bleiben unser Leben lang verletzlich. Es gibt eine Güte, die hinter der Grausamkeit liegt. Sie kann nicht durch die Gewalt abgetötet werden.

Die Rebellion der Liebenden
Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten
Penguin Random House 2024
208 Seiten, 16.- Euro
Das Buch ist ab 11.04.2024 im Handel erhältlich.

„Als Essayistin führt Marica Bodrožić die Sinnlichkeit eines Denkens vor, das immer mehr weiß als die Denkende und ins poetische Suchen führt. Sie öffnet sich dabei bewusst den Traditionen mystischen Schreibens an der Grenze des Sagbaren. Marica Bodrožić findet in ihren Werken eine Sprache, die in eine körperliche, sinnliche und empfindende Weite führt und Welt – wie es einst die Romantiker vor Augen hatten – sprachschöpferisch formt. Sie pflegt eine synästhetische „Poetik der verknüpften Sinne“ und scheut sich nicht, eine geistige Verantwortung der Literatur in der Gegenwart zu formulieren, in der Mitgefühl und Liebe und Einfachheit eine Rolle spielen.“

 

CHRISTIAN LEHNERT

Die im Dienst der Liebe Rebellischen können sich selbst lesen und scheuen die Arbeit nicht, die das Bewusstsein und das Wunder ihnen abverlangen. Die anderen malen an einer in zwei Polen sich ausagierenden Welt: Hier ist mein Blick, dort ist deiner. Es gibt keine Mitteilungen, keine Ideen vom Dazwischen, vom Gespräch, von den Wegen zwischen Worten und Menschen. Außerdem muss ein Mensch in seinem eigenen Bewusstsein von sich selbst zuerst gestärkt und dann bereit sein, alles über sich selbst zu vergessen und ein Niemand zu werden. Im geöffneten Raum seiner Wahrnehmung wird das Bewusstsein ein Ort, der mit dem Rest der Welt, der mit allen anderen Orten verbunden ist. Ohne Durchlässigkeit und ohne das Ablassen von sprachlichen Verhärtungen, von Ideologien und alten Erzählungen, die uns selbst und den öffentlichen Raum unterwandern, lässt sich dieser innere Ort nicht betreten. Die Zuspitzung eines Denkens in Dualitäten mündet im schlimmsten Fall in Gewalt und entlädt sich im Krieg. Doch das Leben ist keine Theorie. Es ist ein unermessliches Geschenk, und wir können von Dankbarkeit erfüllt sein, wenn wir es in Unversehrtheit leben dürfen.

Zwischen der Überschreibung durch die Gewalt und dem Urgrund des Seins gibt es einen Raum der Güte, eine stille, aber lebendige Welt, die eine Aufforderung zur Liebe ist. Sein und Wissen, ohne selbst zurückzuschlagen. Ist das der Ort der Poesie, an dem die eigentliche Rebellion der Liebenden stattfindet? Diese Rückkehr zu den anderen Augen, die ohne Gegnerschaft auskommt, mündet im Erkennen der Wahrheit. Die geduldige Einkehr in die Vertikale unserer inneren Landschaft zeigt, dass diese Liebe keine Kategorie des Habens ist. Sie erschließt sich mir nicht in Gegnerschaft und auch nicht im durchgetakteten Alltag, und doch, genau dort, wo das Sehen das tiefere Schauen einleitet, spricht diese Tiefe zu mir als Liebeslinie.

Aus der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und aus meiner ja durchweg als schmerzlich erlebten Ungeschütztheit in meiner hessischen Jugend entstand aber noch etwas anderes, und das war eine nahezu seismographische Empfänglichkeit für die Leiden aller Lebewesen, die mich umgaben, für die der Tiere und der anderen Menschen, auch eine Wahrnehmung historischer Leiden ging damit einher, die mir mit einem Mal als Leiden Einzelner bewusst wurden.

Behalten wir die Berührung in Erinnerung, so wird das, was Simone Weil im Nachdenken über Krieg und Gewalt anhand der »Ilias« umkreist, unsere Haltung bestimmen. Sie schreibt, der reinste Triumph der Liebe, die höchste Gnade, die dem Krieg widerfährt, sei die Freundschaft, die im Herzen von Todfeinden erwache. Sie lösche den Durst nach Rache für den getöteten Sohn, für den getöteten Freund, sie hebe durch ein noch größeres Wunder die Distanz zwischen dem Wohltäter und dem Flehenden, dem Sieger und dem Besiegten auf. Diese Liebe entsteht nur in einem Zustand der Durchlässigkeit. Sie kann sich nicht schenken, wenn wir identisch sind mit dem, was die Feindschaft von uns will. Sie braucht unsere Verletzlichkeit, unsere bewusst wahrgenommene Ausgesetztheit.

Martin Luther King hat den Traum einer Welt ohne Rassismus, den Traum einer Welt der Gleichheit und Menschenfreundlichkeit und des Friedens in unser Bewusstsein hineingetragen. Wir sind die Fluren der Erde, auf denen seine Visionen zu tief empfundenen Wegen werden und Spuren in unserem eigenen Leben und Sehen hinterlassen können. Seine Worte müssen aber wahrhaft und im Einzelwesen gelebt werden, es nützt nichts, es entleert sie sogar, sie nur kollektiv zu wiederholen. Sie harren unserer Begehung in uns selbst, um auch Erde zu sein, die Wachstum als eine Verbindung, als Wärme zu sich selbst und zu anderen Lebewesen versteht. Die Radikalität einer jeden Utopie ist die des Sich-an-der-Wurzel-Fassens, die des Dortseins, wo ich bin, weil du bist.