Mein weißer Frieden - Marica Bodrožić
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Eines Nachts führt Marica Bodrožić‘ Vater sie in ihrem dalmatinischen Dorf hinaus ins Freie. Sie ist noch ein Kind, und er zeigt ihr am Himmel die Sterne des Südens, erklärt ihr, wie jeder einzelne Stern heißt und dass das Licht der weitentfernten Galaxien alles auf der Erde beschützt: die Tiere, die Bäume und Pflanzen, auch jeden einzelnen Menschen, samt seinen Träumen. Ein ergreifendes Momentum schreibt sich tief in das Kind ein. Seither ist Marica Bodrožić’ Blick auf den Himmel gerichtet, immer auf der Suche nach den Sternen, Erzählungen und Beglückungen des Südens. Diese wesenhafte Liebe bleibt ihr auch im dörflichen Hessen erhalten, als sie das alte Jugoslawien für immer verlässt und in die Nähe von Frankfurt zieht. Selbst als in den 1990er Jahren der Krieg in ihrem Herkunftsland ausbricht, bleibt sie dieser Liebe ungebrochen treu. Seitdem ist sie häufig in ihre brutal zerrissene Herkunftsgegend zurückgereist, und in diesem Buch erzählt sie von ihren gleichermaßen ethnologischen wie empathischen Begegnungen mit Land und Leuten vor dem Ausbruch des Krieges und danach. Sie beschreibt eindringlich die mediterrane Welt, aber auch die Verwüstungen, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat: konkret, anschaulich und zutiefst poetisch zugleich. Dabei geht es ihr immer auch um die Beschwörung der humanistischen Werte und um die Hinwendung zum freien Menschen, der nur dann wirklich frei sein kann, wenn er lernt, auch das Dunkle in seiner eigenen Geschichte zu sehen. Marica Bodrožić‘ Buch ist ein couragierter Beitrag zum Erlernen dieses inneren Sehens. (Text: Klaus Siblewski, Luchterhand Verlag)

Mein weißer Frieden
Luchterhand, 2014

Dichter verstehen sich darauf, Sprachlandschaften zu entwerfen, wie Ingeborg Bachmann Böhmen ans Meer grenzen zu lassen, wie Samuel Taylor Coleridge im Harz, beim Abstieg vom Brocken, Dover zu sehen, oder wie Marica Bodrožić »mitten auf der Place de la Contrescarpe« in Paris das »Meer von Split« in sich zu spüren; zu Räumen werden mithin dem Dichter die Grenzen. Er verwandelt ihren Sinn, um aus ihnen ein neues Dazwischen zu schaffen. Von diesem Versuch ureigenen Verwandelns zeugt Bodrožić‘ Text „Mein weißer Frieden“, einem erzählten europäischen Manifest, dem sie wohlweislich keine Gattungsbezeichnung gegeben hat; denn er ist Erzählung, Beschwörung, Essay und Prosagedicht.

Rüdiger Görner

Das Schreiben dieses Buches hat viele Jahre gedauert. Ich war dabei in äußeren Landschaften und Städten unterwegs, in Wahrheit aber immer Reisende im Gedächtnis. Und ich durfte die Seelen der Menschen lesen, die sich mir geöffnet haben: verwundet die einen, rigoros scheu und schön die anderen, liebend, fordernd, leidend – wie das Leben selbst. Am Ende hatte ich das Gefühl, ein kosmisches Schmerzens- und Liebesmosaik durchdrungen zu haben, das auch mich verändert hat. Unendlich berührt und bewegt haben mich meine neuen Freundinnen aus Sarajevo, die die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts in ihrer geliebten Stadt überlebt haben, nicht nur körperlich, sondern auch im Herzen – sie haben sich keinem Hass gebeugt und waren bereit, mit mir den fordernden Weg zur Sprache und zur darbenden Erinnerung zurückzugehen – nie hat mir ein Mokka so gut geschmeckt wie mit diesen Frauen als wir von den Wunden zu dem Wunder des Lebens zu sprechen kamen! Sie haben mir gezeigt, dass alles miteinander verwoben ist und dass auch ich mich lese, während ich mit ihnen ein Lebensgespräch führe – und dieses Lebensgespräch mit meinen Leser*innen teile, in denen es sich auf die ihnen gemäße Weise fortsetzt im ewigen Lebenslauf der Dinge. Ismeta, die Schneiderin, die in meinem „Weißen Frieden“ eine zentrale Figur ist, gehört zu den scheinbar unscheinbaren Menschen, die das Heilige, das Ganze, das wahre Leben in sich tragen und durch ihr bloßes Dasein Beweis für die Unzerstörbarkeit des inneren Schönen sind. Ich liebe sie über alles. Was spielt es für eine Rolle, dass sie einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehört und ich gar keiner, solange wir das Leben und Gott im Lächeln eines Kindes und in der vollkommenen Form eines vom Meer umflorten Steines sehen können? Wichtig ist, wohin unsere innere Welt uns führt: zueinander! Möge die Kraft solcher Menschen und die Wunde dieser unendlich bedrängten Stadt und der gesamten Region meiner Geburtsgegend Zeichen einer neuen und transformativen Welt sein, in der die Mühen des Bewusstseins sich im größer gewordenen Blick spiegeln und in der die Sprache des verwandlungsbereiten Geistes das alles Verbindende ist. Diese Sprache kommt aus der Seele und nicht aus der eingerosteten Welt, die sich mit Waffen und festgezurrten Identitäten auskennt. In Erinnerung an die spanische Revolutionärin Dolores Ibarruri bleibt mir nur noch zu sagen: Das Bewusstsein hat den Über-Blick – ¡No pasarán, Ihr Herzlosen!

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