21 Apr. Kazimir Malevič, Gott ist nicht gestürzt
Marica Bodrožić
„Gott ist nicht gestürzt!“ – Kazimir Malevič’ „Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik“
Die Wirklichkeit von Allem-was-ist: Eine geistige Donnerschau aus dem Zentrum der russischen Avantgarde.
Als der russische Avantgardist Kazimir Malevič im Umbruchsjahr 1913 auf die Bühne der revolutionären Kunst trat, hatte er nichts Geringeres im Sinn, als eine „neue Haut“ zu entwickeln, „die als Kleid taugt“. Dass er sich damit nicht nur Freunde machte, wird sogleich einleuchten. Jeder freie Geist strebt dem Neuen, dem Unerforschten zu. Indem sie alles Alte festhält, unternimmt die Tradition genau die gegenteilige Bewegung,
„Die Neue Kunst“, wie sie Malevič verstand, sollte eine radikale geistige und bewußtseinsmäßige Veränderung erwirken: Die Neue Kunst, das sei die neue Ära einer eigenständigen Energie außerhalb anderer Ideologien und deren Inhalten.
Im Menschen wohne eine Spiegelkammer, die mehrfache Spiegelungen des Seins vornehme. Daraus lässt sich schließen, dass Wirklichkeit und Materie nur Illusionen sind und das menschliche Leiden lediglich eine Art seelischen Phantomschmerz darstellt – aber längst nicht real ist. Der Schöpfer des „Schwarzen Quadrats“ betont, wider Erwarten, vor allem die Besonderheit der Farbe WEISS bei seinem Werk. Nur durch das WEISS könnten die Lichtstrahlen ins Unendliche vordringen; das Dunkle verhindere, so der Künstler, die klare Vorstellung vom Unendlichen. Dieses faszinierende Bewusstseinsfenster öffnet er in seinen bisher nur unzulänglich ins Deutsche übersetzten und nun zum großen Gewinn neu übertragenen und erweiterten Schriften. Der metaphysische Bogen zwischen Kunstwerk und Menschenleben wird auf eine geradezu prophetische Weise gespannt und bleibt bis zum letzten Wort gewaltig: Malevič glaubte, „dass dieser Vorstoß der Kunst auch die übrige menschliche Gesellschaft zu der Erkenntnis führen wird, dass auch ihr eigentliches Wesen die weiße gegendstandlose Gleichheit ist.“ Der 1878 in Kiew geborene Maler Kazimir Malevič und seine Freunde pflegten im revolutionären Russland dadurch Aufmerksamkeit zu erregen, dass sie rote Holzlöffel anstelle der Ziertücher in der Brusttasche ihrer Jacketts trugen – wobei die als Provokation gedachten Jacketts als gelbe Kittel geschnitten waren. Nicht nur hatten die avantgardistischen Dichter und Künstler „Dem öffentlichen Geschmack eine Ohrfeige“ in einem heute weltberühmten, damals vom Dichter Welimir Chlebnikow verfassten Manifest erteilt; sie hatten – im Gegensatz zu heute – die ernsthafte Abschaffung jeglicher öffentlicher Moral im Sinn. Alles Vergangene war ihnen zu eng geworden. Einer dieser Wortführer der russischen Avantgarde war der Schöpfer des Kunstwerks „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“: Kazimir Malevič. Das Epochenjahr 1913 brachte viele Brüche und Abschiede mit sich. Doch war es auch die Geburtsstunde des enigmatischen Hauptwerks von Kazimir Malevič: Der von ihm so getaufte Suprematismus.
Suprematismus, das wurde bis zum Ende seines Lebens – im Jahre 1935 – das maßgebende Zentrum seiner kunsttheoretischen Arbeiten. Doch was war das Ziel des Suprematismus? Er war gedacht als Angriff gegen alle alten Vorstellungen – und sollte selbst Picasso überwinden. Es ging um die Idee der totalen Entgegenständlichung aller Dinge und Formen.
Vorgetragen wurde diese neue Denk- und Kunstrichtung von Malevič mit einem „Pathos der Unwiderlegbarkeit“. Das „Schwarze Quadrat“ stellte für Malevič’ eine regelrechte Provokation dar. Die radikalste Verdichtung, die Malevič tat, war die absolute Leugnung jeder Beziehung der Kunst zur Natur. Malevič ging davon aus, dass das Wesen des Bildes stets vom Gegenstand getötet worden war – und zu seinem Wesen nur wieder zurückfinden könne, wenn man auf Dinglichkeit und naturgetreue Abbildung radikal verzichte. Emphatisch ruft er zum Gleichmaß von Kunst und Leben auf: „Ich habe den Knoten der Weisheit gelöst und das Erzeugen der Farbgebung befreit. (…) Ich habe das Unmögliche überwunden und habe die Abgründe zu meinem Atmen gemacht. Ihr seid in den Netzen des Horizonts – wie Fische! Wir, Suprematisten – schlagen euch den Weg. Eilt! – Denn schon morgen werdet ihr uns nicht mehr erkennen.“
So theoretisch die Bewegung erst geklungen hatte, so überraschend ist ihr mit Leben gefülltes Timbre. Das Wunder der Natur liege darin, dass sie in einem kleinen Samenkorn ganz da sei. Und dabei sei das alles, diese kleine schöpferische Bewegung, gar nicht zu erfassen. Der Mensch nimmt in diesen illuminierten Schriften des russischen Malers und Avantgardisten eine Sonderstellung ein. Stets ist er durch sein Bewusstsein der Natur voraus und zugleich ihr wesentlicher Mittler: „Der Mensch, der ein Samenkorn hält, hält das Weltall in den Händen und vermag es nicht zu überblicken, so augenfällig der Ursprung des letzteren auch sein mag und trotz aller ‚wissenschaftlichen Begründungen’.“
Man müsse dieses Samenkorn ent-verständlichen, heißt es weiter bei Malevič, um das ganze Weltall zu enthüllen. Und nichts Geringeres unternimmt er in seinen schriftstellerischen Arbeiten. Die Illusionen der Materie und die Verirrungen des festhaltenden Verstandes sind dabei in ungewöhnlich emphatischen Sprachschüben beschrieben. Diese Texte sind weder nur poetisch noch nur theoretisch. Trotz direkter Funken und furioser Geistesblitze bleiben sie bis zum Schluss geheimnisvoll mitreißend. Dabei sind die von ihm anvisierten „Entfernungen der Wirklichkeit“ doch am Ende sehr einfach gemeint. Das Leben und die Kunst sind dem Kaleidoskop vergleichbar: die Drehbewegung verändert die Perspektive. Und Malevič war und ist auch heute noch ein Revolutionär im eigentlichen Sinne, denn er behauptet nicht nur, dass die Wirklichkeit viele Gesichter hat, sondern, dass es sie gar nicht gibt. Wie würden Menschen leben, wenn sie mit ihrem ganzen Bewusstsein erfassen könnten, dass sie die Spiegelung der Spiegelung sind, die wiederum auch nur ein Abbild eines Abbildes ist?
Die Natur, hält Malevič an einer Stelle fest, hat alles so schlau eingerichtet, dass wir das Original nicht finden können. Nach der freiflutenden Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches dürfte die Suche eine besondere Freude machen.
Kazimir Malewitschs Aufsätze sind im Hanser Verlag unter dem Titel „Gott ist nicht gestürzt. Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik“ erschienen.
Text von 2004, MDR