
09 März In welcher Zeit leben wir?
Als vor einiger Zeit klar war, dass Meta / Instagram vor Faktenchecks absehen würden, beschloss vor diesem Hintergrund für meine Leserinnen und Leser einen eigenen „Kanal“ aufzubauen und einen Newsletter zu verschicken. Anstelle also eines ohnehin immer knapp gehaltenen Beitrags in den Sozialen Medien, habe ich mich entschieden, meine Gedanken in einem Text aufzuschreiben. So bin ich und sind auch Sie frei von der Willkür der Betreiber Sozialer Netzwerke und ihrer Beziehung zur Künstlichen Intelligenz. Was uns Menschen von Maschinen und Algorithmen unterscheidet, das ist die Fähigkeit Fragen zu stellen.
In was für einer Zeit leben wir?
Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sich jeder Mensch die Zeit dafür nimmt, in diese Frage hineinzuleben. Denn unser Sein findet in der Zeit statt. Zeitgleich sind wir selbst die Zeit, wir machen das, was die Zeit uns zeigt. Sie ist unser Spiegel. Deswegen nützt es nichts, den Spiegel anzuschreien. Jeder einzelne Mensch ist seine Zeit. Und die Zeit hat alles in sich, was auch wir in uns haben. Jeder einzelne Mensch ist in diesem Sinne tätig und gestaltet seine Zeit, ob er es weiß oder nicht. Meine Tochter sagte kürzlich aus dem Nichts heraus: „Zeit ist Leben“. Wenn Zeit Leben ist, was machen wir daraus, wie verbringen wir unsere Zeit? Denn jeder Mensch hat ein eigenes Leben. Immer und unter allen Umständen.
Dieser Tage muss ich an den Film „Brazil“ von Terry Gilliam denken – er spielt in einer dystopischen Zukunft eines autoritären europäischen Staates. Hier entfaltet sich die Geschichte von Sam Lowry, einem frustrierten Büroangestellten im Ministerium für Information. Wenn Sie den Film nicht kennen, schauen Sie ihn sich gerne mal an. Als ich ihn das erste Mal sah, hat mein ganzer Körper sich dagegen gewehrt. Ich weiß, warum, es ist schwer, die Gewalt, die nun auch uns umgibt, zu ertragen. Unser Körper trägt aber die Gewalt aus, die uns umgibt, er ist der Mittler unserer Sprache. Aber der Filmemacher Gilliam hatte Mut, diesen Film zu drehen, weil er nach eigener Aussage irgendwann die Kraft hatte, in sich selbst hineinzusehen – die eigenen Ängste zu sehen, die eigenen Wünsche zu verstehen, das hohe Ideal, aber auch die Not angesichts von obskuren Systemen, die den einzelnen Menschen in einem bestimmten Moment der Geschichte regelrecht verschlucken. Dieser Tage muss ich auch immer wieder an Ivo Andrić denken, der in Belgrad während der Nazi-Besatzung lebte und mit aller Konzentration und Ruhe seine Bücher schrieb, als sei das das Wichtigste auf der Welt. Später erhielt er den Literaturnobelpreis für diese Werke. Immer wieder kann ich selbst diese Ruhe spüren, diese stille Erdung, die das Schreiben in den größten Stürmen mir schenkt. Während alles um Andrić herum zerbrach, baute er in seinen Texten ganze Welten mit seinen Sätzen. Geistige Schöpfung ist genauso real wie ein Tisch, ein Löffel oder die kleine Nase eines Kindes. Dieser Tage muss ich auch an Toni Morrison denken, die von der Bedeutung der Kunst und Literatur in Zeiten doktrinärer Bedrängung gesprochen hat und die nie müde wurde zu betonen, wie kostbar der genaue und selbstermächtigende Blick ist, den der schöpferische Akt schenkt. Was ein einzelner Mensch in seiner schöpferischen Kraft vermag, wird sichtbar in jedem, der sich auf diese einlässt, sei es in einem Buch, in einem Film oder einem anderen Kunstwerk. Aber die größte Kunst ist das Leben selbst, das Wort, das wir sprechen, zu uns und zu einem anderen Menschen, hat Gewicht, wenn es wahr ist. Alle anderen Künste helfen, jenen großen Raum der universalen Imagination so weit kennenzulernen, dass sie dem Menschen helfen, seiner Genauigkeit, seiner Freundlichkeit anderen Wesen gegenüber gerecht zu werden. Kunst und Literatur können nicht die Welt auf der Stelle verändern, aber sie können helfen, zu einem genauen Blick zu kommen und daraus entstehen viele Welten, Leitern, innen und außen, auf der Ebene der Empfindungen, auf der Ebene des Denkens, auf der Ebene des Geistes, das schenkt Mut in einem wichtigen Augenblick, wenn wir etwa die Stimme für einen anderen Menschen erheben oder uns gegen eine Gemeinheit oder eine menschenverachtende Idee zu positionieren müssen.
In Amerika vollzieht sich gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Putsch, ein gewählter Präsident bringt die Idee einer ethnischen Säuberung in Gaza ins Spiel – und an all das sollen wir uns gewöhnen. Sich darüber aber nur zu empören, heißt auch, sich ein wenig und im Sinne der dunklen Kräfte an die Menschenfeindlichkeit, an die Maßlosigkeit der Feindschaft, an die Gier der Mächtigen zu gewöhnen. Sie anzunehmen, ihr unsere Zeit, unser Leben zu schenken. Gewöhnen wir uns nicht an die Barbaren! Sondern nehmen wir die Arbeit der Genauigkeit auf uns, schauen wir in uns selbst hinein, sprechen wir in Güte miteinander von Angesicht zu Angesicht und in Geduld und Umsicht. Das gleiche gilt für die israelischen Geiseln, denen wir nicht helfen können. Diese Ohnmacht tut weh. Es bricht einem das Herz, die Zurückgekehrten abgemagert und mit von Trauer gezeichneten Augen zu sehen. Und es tut auch unendlich weh, die vom Krieg gezeichneten Menschen zu sehen, ihre Müdigkeit, ihre Not, ihre kleinen Habseligkeiten, das Zittern ihrer so klein gemachten Freiheit, die sie wacker in ihren Körpern von Ort zu Ort tragen. Ich glaube, es ist wichtig, für sich selbst zu prüfen, zu schauen, was in uns, in unserem Inneren geschieht, wenn all das Unmenschliche geschieht und auch unsere Demokratie im Visier hat.
Es ist bedeutungsvoll, in sich selbst ein Gespräch der eigenen Verletzlichkeit lebendig zu halten, sich zu korrigieren und wie Ivo Andrić zur Ruhe zu kommen, eine Ruhe innerlich zu schaffen, aus der heraus eine andere Zukunft entstehen kann, ein anderes Leben, eine neue Buchstabenküste, ein neues Glück, wieder und noch immer und jeden Augenblick gesund und lebendig zu sein. Dieser Tage denke ich an das, woran ich schon viele Male in meinem Leben gedacht habe, wir leben nicht mehr nur in nationalen Räumen, wir leben wahrhaft in der ganzen Welt und was dort geschieht, geschieht uns zeitgleich überall und betrifft uns. Wichtig ist, die gute Kraft in sich selbst zu halten, durch die Nöte hindurchzugehen, sich auf das zu besinnen, was da ist an Gutem und an Schönheit. Denn jedes Leben ist zeitgleich zu allem auch davon in der Tiefe bestimmt, dass es ein Ausdruck der Liebe innerhalb der Menschenwelt ist. Dies zu vergessen, würde heißen, dem autoritären Duktus des Unglücks, der an uns herangetragen wird, zu erliegen und nicht mehr zu wissen, was das Leben von uns will. Was will das Leben von uns? Nur der einzelne Mensch kann in diese Frage hineingehen, gleichsam zu ihr reisen wie Wasser es macht, unterwegs zu einem durstigen Mund. Wir kommen mit nichts in diese Welt und wir verlassen sie mit leeren Händen.
Etty Hillesum fällt mir auch dieser Tage ein. Über Etty Hillesum habe ich in meinem 2018 erschienen Buch „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe“ kurz nach der Geburt meiner Tochter geschrieben. Leben in Leben gebettet, Liebe und kein Entkommen – ich gab mich hin, mein Leben war durch das atmende Gegenüber verändert worden. Ich denke dieser Tage viel an Etty Hillesum und frage mich, ob es jetzt da ist, jenes Zeitalter der gusseisernen Begriffe, das ich so deutlich gefühlt habe mit meinem kleinen Kind im Arm, Zeiten, in denen fast nichts mehr gefühlt, sondern nur proklamiert wird und so laut, dass man einen Baum vorzieht für stillste Unterhaltungen. Als knapp dreißigjährige holländische Jüdin starb Etty Hillesum in Auschwitz. Ihre Tagebücher sind mir seit vielen Jahren eine Quelle der Zuversicht, der Aufrichtung und des Mutes. Sie zeigt, wie das Leben wirkt und auf welche Weise es durch einen einzelnen Menschen hindurch zu vielen anderen spricht. Dass es kein Ende hat, weil immer das Leben eines anderen Wesens und der Lebendigkeit einem scheinbaren Ende folgen. „Das Leben und das Sterben“, schreibt Hillesum einmal, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten – all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich beginne immer mehr zu begreifen, wie alles zusammenhängt, ohne es bislang jemanden erklären zu können.“ Weiter hält sie fest, dass sie lange leben möchte, „um es später doch noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde.“
Dieser Tage frage ich mich auch, ob wir nicht immer dieser Mensch für einen jeden anderen Menschen sein können, Liebende in einem Augenblick, in dem ein Leben angegriffen, bedroht oder gar unterbrochen wird. Aber auch in seiner Schönheit und Fülle unterstützt! Dieser Tage frage ich mich, welche Sprache gesprochen werden kann, um zu dieser Frage zurückzukehren, zu der Frage, wie kann ich im Verbund mit allem Lebendigen heute leben, wie kann ich mir erlauben, an das Gute zu glauben, wie kann ich es gestalten? Dieser Tage denke ich auch, dass das Böse, die Abgründigkeit menschenfeindlicher Positionen nicht bekämpft werden kann, denn dieser Kampf verstärkt die dunklen Kräfte. Richtiger und wichtiger erscheint mir, auch das habe ich vielfach vor allem in meinen Essays geschrieben, an dem zu bauen, für das einzustehen, was das andere ist. Allein nur in Gegnerschaft erbaut sich keine Welt. Denn das Böse und das Gleichgültige verweist mit seiner brachialen Macht nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf das Gute.
Zur Zeit verfolge ich atemlos die Ereignisse in Serbien. Seit Wochen protestieren dort die Studierenden und zeigen ganz neue Formen des Aufstands, würdevoll, mit Anstand (sie räumen sogar hinter sich auf!), Mütterchen auf dem Land kommen mit Töpfen und schieben ihnen essen zu. Tagelang sind sie unterwegs, oft singen sie, einige sollen lange Strecken gejoggt sein. Mittlerweile werden sie auch u.a. von Rade Šerbedzija unterstützt, wer ihn kennt, kennt ihn. Kürzlich ging vor den demonstrierenden jungen Menschen ein alter Mann auf der Landstraße in die Knie, er verbeugte sich, bekreuzigte sich in unendlicher Ehrerbietung, woraufhin die Studierenden „Väterchen, wir lieben dich“ sangen. Auf den Traktoren der Bauern stehen Schilder wie „Lasst unsere Kinder in Ruhe“. Gestern ist zum ersten Mal ein Lehrer wegen seiner Unterstützung der studentischen Proteste gekündigt worden. Die Direktorin habe ihn, konnte man in den Sozialen Medien nachlesen, zu sich gerufen und zu ihm gesagt, er stehe auf der falschen Seite der Geschichte. Die Folge? Jetzt wollen alle heute, am 14.2.2025, für diesen Lehrer demonstrieren und für ihn einstehen. Wie wird es ausgehen? In der Zwischenzeit werden die serbischen Studierenden auch in Kroatien unterstützt, in Zagreb, Split und Osijek gehen kroatische Studierende für sie auf die Straße, was in mir zu unermesslichem Glück führt. Ich kann verstehen, dass kroatische Menschen, die während des Krieges in serbischen Lagern einsaßen und Schlimmstes erlebt haben, dagegen sind, weil sie noch immer in den Kategorien ihrer Not denken. In mir entsteht aber genau an diesem Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft die Frage: Wie sonst, wenn nicht durch einen neuen Schritt, können Frieden und Freiheit gestaltet werden?
Erst wenn wir Trauma und Gleichgültigkeit überwinden, fängt etwas Neues an. Sonst können wir keine Fragen stellen. Das Gute legt uns aber nahe, aneinander dranzubleiben, es fordert uns auf, die Blickrichtung zu wechseln und von der Dumpfheit des Alten wegzukommen, das Leben genau zu sehen und Verantwortung zu übernehmen. Das Gute darf nicht aufgegeben werden, es kann aber nur durch den einzelnen Menschen in die Welt kommen und es entsteht immer an den Widerständen entlang. Dann übersetzt es sich in etwas Äußeres. Dieser Vorgang ist hochkomplex, einer großen geistigen Architektur anvertraut – ein Bau von außerordentlicher Bedeutung genau in dieser Zeit, in der wir leben. Bücher und Menschen können neue Wege sichtbar machen. Sprache ist eine Speise auf der geistigen Ebene der Autonomie.
Ihre
Marica Bodrožić
Meine Termine für Lesungen und Seminare finden Sie auf meiner Homepage