10 Dez. MELONENSCHALE
„Von Kindheit an lernte sie“, heißt es bei Rada Biller, „in jeder vorhergehenden Emigration für die nächste zu leben.“ Und genau davon handelt auch ihr offen autobiographischer Roman „Melonenschale“. Das hier beschriebene Leben zeigt exemplarisch das Schicksal unzähliger Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Rada Biller erzählt ihr Säkulum ohne Wehmut und auch ohne Anklage. Jenseits davon schreibt sie ihre Erfahrungen nieder und sagt von sich, sie habe das ganz gewöhnliche Leben eines ganz gewöhnlichen Menschen unserer Zeit gelebt. Doch genau diese Haltung hat ihr das Überleben gesichert. Das ist am Ende mehr als nur „besonders“, es lässt uns den Hauch jener Kraft erahnen, die aufgebracht werden musste, um ohne Gehässigkeit Länder und Zeiten zu durchschreiten. Rada Biller ist 1930 im asarbaidschanischen Baku als Tochter ihrer jüdischen Mutter Zelda Perlstein und ihres armenischen Vaters Akop Tschachmachtschew zur Welt gekommen. Die Kriegsjahre führen sie zuerst nach Baschkirien, über Moskau und nach Stalingrad. Von dort siedelt die junge Mutter der Erzählerin Lea, das Alter Ego Rada Billers, nach Prag über. Im Jahre 1970, zwei Jahre nach der Zerschlagung des Prager Frühlings, wird sie jedoch auch diese Stadt mit ihrer Familie wieder verlassen. Ein weiteres Mal steht ihr ein Neuanfang bevor; nun soll es Hamburg sein.
In dieser Biographie reiht sich ein Neubeginn an den anderen. Jede Station im Leben der hier beschriebenen Menschen bringt neue Hoffnung, aber auch neue Probleme mit sich. Immer wieder muss Abschied genommen werden: sei es von einem Land, von nahen Verwandten, von Bäumen und Landschaften, von vertrauten Gewohnheiten oder, nicht zuletzt, von einem liebgewonnen Gegenstand wie dem Klavier. Im Sommer 1943 beispielsweise siedelt Lea mit ihrer Mutter, von einem Dampfer zum anderen umsteigend, nach Stalingrad um. Das Klavier fährt ihnen über die russischen Flüsse als Reisegepäck langsam hinterher. Nach der fünften, sechsten Station ist es „völlig verstimmt“. „Wie ein Mensch“, heißt es, „der viel durchgemacht hat.“ Auch eine Reparatur kann nichts mehr ausrichten. Rada Biller hat nach dem Zweiten Weltkrieg Geographie in Moskau studiert. Seit ihrer Übersiedlung nach Deutschland, im Jahre 1970, forschte sie am Außenwirtschaftsinstitut der Hamburger Universität. In all diesen Jahren hat sie Geschichten und Prosaminiaturen geschrieben. Gelassen und wohltuend klar fällt ihr Rückblick aus. Es verwundert überhaupt nicht, dass diese Erzählerin die Mutter zweier renommierter Schriftsteller ist. Ihre Tochter Elena Lappin lebt heute in London und schreibt in Englisch. Ihr Sohn, der Schriftsteller Maxim Biller, ist in Berlin ansässig. Beide Autoren sind Beispiele einer eigenständigen, dem Erzählen von Geschichten zugeneigten Literatur. Als würden sie das Jahrhundert der Mutter auf ihre Weise fortführen, schreiben sie in zwei verschiedenen Sprachen. In ihren Erinnerungen mit dem Titel „Melonenschale“ kann man ihre ersten Schreib-Zeugnisse nachlesen; so zum Beispiel aus der Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings. Während die Eltern in Prag das aktuelle Geschehen verfolgen, sind beide Kinder in einem Ferienlager. In russischer Sprache schreibt die Tochter Elena, im Buch Lena genannt, an ihren Großvater in Moskau:„Lieber Opa! Ich schreibe Dir aus dem Pionierlager. (…) Wir brauchen sie nicht, diese Soldaten. Sie sollen sich wieder nach Hause scheren. Wir haben unseren eigenen Sozialismus.“ Dann, in direkter Ansprache, richtet sie das Wort an jenen Genossen, der voraussichtlich an der Grenze ihren Brief lesen würde: „Onkel, Sie sind doch ein Mensch, Sie können mir glauben, durch diesen Brief wird es in der UDSSR keine Revolution geben, und das Volk wird nicht in Aufruhr geraten.“ Der Beamte könne den harmlosen Brief ruhig weiterschicken, alles sei wahr und nichts gelogen. – Soweit die zwölfjährige Lena. Die literarischen Impressionen Rada Billers sind durchdrungen von tiefer Menschlichkeit, festgehalten von einem untrüglichen Geist, der gar nichts fordert und nur durch das Erzählen den Leser beschenkt. In neun Kapiteln werden die wichtigsten Begebenheiten dieser Biographie beschrieben. Herausragende Augenblicke, mitten in Krieg und Not, prägen sich besonders ein. Dazu gehört Leas „Erster Kuss“. Das Mädchen hatte sich im Kindergarten frech den nächstbesten Jungen ausgesucht und war gleich zielstrebig auf ihn zugegangen, um ihr Anliegen, den Kuss, loszuwerden. In der Geschichte „Die Forelle“ erfährt man von bunten Märkten, von Händlern, die ihre Waren feilbieten und ihr Angebot lautstark als das „allerbeste“ anpreisen. Aus der Erinnerung des Kindes tönen die einstigen, damals allen geläufigen Sprachen wie ein buntes Gewirk an die Oberfläche: Asarbaidschanisch, Russisch („meist mit starkem kaukaischem Akzent“), Armenisch, Georgisch, Jiddisch und Deutsch.
Das Jahr 1937 beendet die Unbekümmertheit der Menschen und legt sich wie ein Schatten über sie. Angst verbreitet sich, immer mehr jüdische Menschen werden abgeholt. Viele hoffen, gelähmt vor Unfassbarkeit, ihr Leben würde bald wieder eine neue Wende bekommen. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die Deutschen befinden sich nun schon vor den Toren Moskaus, sagt Leas Mutter, dass in den eingenommenen Städten alle Juden erschossen werden. Daraufhin der Vater: „Hab keine Angst, ich bin bei Dir, ich gebe Dich niemanden her.“ Die Familie überlebt die Zeiten des Krieges und übersteht auch jene darauffolgenden, von Misstrauen und Überwachung geprägten Jahre im Kommunismus. In der Erzählung „Das Gewitter“ hat Rada Biller für ihre eigene Haltung eine Umschreibung gefunden, die wie ein Motto, wie eine Hintergrundmusik ihr gesamtes Leben durchzieht. An einer Stelle heißt es: „Obwohl man Lea in der Schule beibrachte, nicht an Gott zu glauben, und zu Hause Gott mit keiner Silbe erwähnt wurde, war sie jetzt davon überzeugt, dass Gott sie erhören und der Blitz sie (…) nicht treffen würde.“ Diesem Buch sind viele Leser zu wünschen. Es lehrt uns das, was die Franzosen so schön mit der Formulierung education du coeur getroffen haben. Weinen und Lachen liegen stets nah beieinander. Sie wechseln sich ab, und wenn man dieses Buch gelesen hat, kommt einem alles vor wie ein Wunder. Wenn Rada Biller festhält, Schreiben sei ihr bei ihren ersten Liebesbriefen an ihren Mann Schimon einfacher vorgekommen als Reden, dann hört der Leser stets die andere, diesen Roman durchziehende Botschaft mit: Hoffen ist einfacher als Klagen.
Rada Biller: MELONENSCHALE. Roman.
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Berlin Verlag 2003. 373 Seiten. 22 Euro
Saarländischer Rundfunk, 2003