10 Dez. Die Verlusttabellen der Erinnerung
Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, fällt er allmählich in sich selbst zurück, wird Teil jener „Vergessenheitsbibliothek“, die für die dänische Lyrikerin Pia Tafdrup mit der Demenz und schließlich dem Tod des eigenen Vaters zusammenfällt. Zeitgleich ist das große Ausgelöschtwerden eines Menschen auch der paradoxe Moment, in dem für andere die Essenz seines Lebens sichtbar wird. Die Demenz und der endgültige Abschied des Vaters verlangen Tafdrup wiederum eine hochkonzentrierte Hingabe an die gemeinsam durchschrittene Existenz ab. Was bleibt von einem nahen Menschen, wenn er nichts mehr zu seinem eigenen Gedenken beitragen kann?
Die 1952 in Kopenhagen geborene Pia Tafdrup, die zu den wichtigsten dichterischen Stimmen ihres Landes zählt, hält dieser Frage mit großer Geduld stand. Unweigerlich stellt sich der Eindruck ein, dass sich in dieser Situation des wie mit einer Axt gefällten väterlichen Gedächtnisses die Rollen vertauschen. Die Tochter, voller Fürsorge und Aufnahmefähigkeit, versucht bei jeder Regung den Vater zu lesen, ihn und seine Bedürfnisse zu verstehen, so, wie er es einst getan hat, als sie noch ein Kind und der Wärme seiner wissenden Hände bedürftig war. Die Intensität dieses seelischen Gesprächs zwischen Vater und Tochter ist so stark, dass stellenweise nur noch die akribische Benennung des einst gemeinsam Erlebten den Schmerz aushaltbar macht – wie etwa in dem Gedicht „Notschrei“, in dem es heißt: „Die Brücke zum Gestern ist gesprengt, mein Vater / hat keine Erinnerung daran, / dass wir Stauden pflanzten in sein Beet, / die Blumen sind ein Nichts, ein blankes Negativ.“ So trostlos diese Szene im ersten Moment erscheint, so reich wird sie im Blick der Tochter, wenn klar wird, dass dem Vater zwar die Brücken zu seiner Vergangenheit nicht mehr zu Verfügung stehen, ihn dafür aber eine Art imaginäre Korrespondenz beschäftigt: sein toter Bruder, seine tote Schwester, seine tote Mutter sind allgegenwärtig; die Toten reden mit, haben als in Bildern Auferstandene Anteil am geheimen Leben des Vaters. Da sie nun genauso wenig wie Tafdrups Vater an die Zeit gebunden sind, dürfen sie im Chor seiner inneren Stimmen mitsprechen. Was wir Lebenden eine „tröstende Lüge“ nennen, erscheint in Wirklichkeit in unserer inneren Bildwelt als miteinander verbunden – die Toten haben ihr eigenes Archiv im ins Vergessen driftenden Vater abgelegt. Er scheint es mit seinen Gedanken und mit seiner Sehnsucht zu aktivieren. Vielleicht, so lassen sich diese Gedichte lesen, gilt das allerdings für alles Vergangene, das die guten Seiten unseres inneren Lebensbuches beschriftet hat. Unweigerlich stellt sich bei der Lektüre dieses Gedichtbandes die Frage, ob nicht die an Demenz erkrankten Menschen uns in letzter Konsequenz das Gleiche wie die Toten erzählen – was sie verlieren, droht auch uns immer als Verlust und Schicksal. Wir können zwar unser Leben immer anders denken als es ist, aber immer nur in Verknüpfung mit jenen, die wie wir in der Zeit leben oder gelebt haben. Immer wieder zeigt Pia Tafdrup in ihrem poetischen, nie herzlosen Sezierungen, auf welche Weise sich die konkrete Zeit auflösen und in ein persönliches Zeitempfinden verschieben kann, wenn ein naher Mensch sich aus dem Uhrwerk ausklinkt, das einst Orientierung verschafft hat.
Physisches und Metaphysisches erfahren eine radikale Schnittmenge im Bewusstsein des noch in der Zeit lebenden Menschen, für den sich allmählich seine eigenen Essenzen herausschälen. Und für den Kranken markiert schon die Hausschwelle eine Gefahrenzone, die einen toten Hund – aus der Erinnerung – ins Hier und Jetzt einschleust: „Mein Vater reißt die Tür weit auf, der Sturm / fällt in sein Leben ein, ein Sturm / wirbelt seine Gedanken auf, offenbart weiße Flecke / auf der Karte der Erinnerung. / Er steht auf der Schwelle, am Rande / des Dunkels, / ruft den Hund, der nicht fu sein Herrchen hört. / Er ist tot / seit vielen Jahren.“ Draußen vor der Tür, heißt es weiter, sei die Welt eine Katastrophe und äußerst kompliziert. Die Gedichte von Pia Tafdrup zeigen so glasklar wie sanftmütig, auf welche Weise die Komplexität der Welt für einen dementen Menschen zur Gefahrenzone werden kann. Der des Gedächtnisses beraubte Einzelne wird zum hilflosen Wesen, zu einem Kind, das auf die Güte eines Helfenden angewiesen ist. Diese Gedichte sind nicht nur ein Requiem für den geliebten und verehrten Vater, sondern auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden. Der Kranke zeigt dem Gesundgebliebenen die Wege des eigenen Blicks. Zeitgleich wird die Wirkung des Sehens und Gesehenwerdens offenbar, die Welt vor der Veränderung des eigenen Bewusstseins – es ist eine Welt, in der die Chronologien mehr zählen als die inneren Wärmelinie eines von Erinnerung entkoppelten Menschen. Das lyrische, hier überaus wache und Anteil nehmende Ich kann seine Autonomie nur tastend leben. Manchmal ist das nur mit einer Frage möglich, die es sich erlaubt solange der Vater noch am Leben ist: „Verwandelt sich mein Vater / nicht mehr in den, / den ich kenne?“ Statt aber auf Antworten zu warten, vertraut es sich dem Tier aus der väterlichen Erinnerung an und hält fest: „Durch eine unterirdische Passage / laß ich den Hund herein hier – / warum / ist es nötig / zu verstehen? / Ich streichle den Hund, gebe ihm Wasser zu trinken.“
In der Imaginationskraft der Tochter steigen mit der Zugewandtheit auch die metaphysische Fähigkeit des Standhaltens und die Zeit darf schmelzen: „… ist morgen bereits gestern?“ Der zutiefst humane und also liebende Blick der Tochter auf die eigenen und die väterlichen inneren Landschaften führt dazu, dass die scheinbar versiegelte Erinnerung ihre eigene Verfassung aufgeben und wieder fließen kann. Die Denkrichtungen sind nun genauso wie die Rollen ausgewechselt, wenn ein vertrauter Mensch sich an andere, für den Gesunden uneinnehmbare Koordinaten hält, ja sich aus dem vertrauten Gefüge losreißt, so, wie sich in Andrej Tarkowskis Filmen (ganz besonders in „Andrej Rubljow“) die Pferde losreißen und in die Unendlichkeit der Imagination auswandern; sie treten über eine Schwelle, hinter der das Vertraute nicht mehr existiert, wie wohl auch im Inneren eines Menschen, der uns vergessen hat – es wird nun nichts mehr mitgeteilt. Dieses uns auf ewig verschlossen bleibende Exil muss unversprachlicht bleiben. Allein die Grenze ist seine Sprache. Das Denken hört hier nicht nur auf, sondern löst sich auf, wird Schwärze im Geist: „Mit einem Male verstehe ich: / Mein Vater weiß nicht, / was er tut (…) die Pferde haben sich losgerissen. / Langbeinige Flucht, schwarzem Horizont entgegen.“
Immer wieder zeigt Pia Tafdrup an kleinen, bewegenden Situationen, welche Prozesse im Denken und im Leben in Gang gesetzt werden, wenn nicht mehr die Struktur der Zeit die Beziehungen zwischen den Menschen gliedert. „Ob zwei Stunden / oder zwei Minuten vergangen sind, / ist das entscheidend, / solange Schutz gesucht wird / in einer glasklaren Erinnerung aus der Kindheit.“ Ein Rückgriff auf Erlebtes scheint also unvermeidlich. Das Tochter-Ich setzt letztlich den Unterschied, es nimmt die Bäume zum Anlass, um mittels Jahreszeiten über Orientierung nachzudenken: „Sie leuchten / in seinem Gehirn, / die weißen Stämme der Birken, / heroisch aufrecht / oder ruhig schwankend.“ Der Mensch, so bleibt am Ende ungeschönt zu erkennen, wird entwurzelt wie ein Baum, wenn er sein Gedächtnis verliert. Besonders bedeutsam für die Dichterin ist dabei die Tatsache, dass sich ihr das Netzwerk ihrer eigenen Erinnerungen bei einem Aufenthalt in Berlin zeigt, einer Stadt, zu der sie eine besondere Beziehung hat wie zu Deutschland überhaupt, da ihre Eltern als Juden 1943 nach Schweden die Flucht ergreifen mussten. Der Vater, ein gebildeter Mann und Kenner der deutschen Poesie, den das lyrische Ich zum Gravitationszentrum dieses Gedichtbandes erwählt, wurde mit seinen Geschwistern im Exil Mitglied einer dänischen Widerstandseinheit und war dann nach dem Krieg Landgutsbesitzer nördlich von Kopenhagen. Die so im Gedächtnis der Tochter abgelegte Geschichte des 20. Jahrhunderts spricht stets mit, besonders in ihrem hellwachen Blick. Dieses denkende Sehen ist sich darüber im Klaren, dass das, was für die Tochter „Gegenwart“ ist, eine Zukunft sein wird, die ihr Vater niemals kennenlernen wird. Ist diese Auslöschung eine Erlösung? Darüber sagt Pia Tafdrup nichts, da die direkte und persönliche Beziehung zum Vater im Vordergrund steht. Nun, gen Ende seines Lebens, bleibt auch ihr nur noch die innere Zeit, die gelebten Essenzen, die einzelnen Liebkosungen, nackte Augenblicke, die die Dichterin als innere Funken der Stille beschreibt und die nicht jenseits der eigenen Hingabe überleben können. Alles geht seinen Gang, „… weiter stürzen die Sterne / von Jahrmillionen / ist es dieses Jetzt – / die früheste Morgenstunde, / abgebeizt und durchsichtig.“ Das Gedicht „Verlusttabelle“ hebt besonders hervor, wie das Element der Dichtung arbeitet, wenn es die Schwebezustände zwischen Verstehen und Vergessen auffängt, auch die Tyrannei der äußeren Zeit wird dabei sichtbar, die gnadenlos weiterläuft und sich nicht mit den inneren Landschaften des Menschen aufhält: „Mein Vater vergeht wie Tage / fliehen.“ Und dennoch kann zumindest das lyrische Ich von sich sagen: „… es gibt Schritte / über die Logik hinaus, / Sonnensysteme aus Unerklärbarkeiten. Obwohl er doch lebt, / such ich nach / meinem Vater in meinem Vater.“ Rettung kommt in die metaphysisch in jeder Hinsicht zugespitzte Situation ausgerechnet von einer Katze, also einem sprachlosen Wesen, dessen Gedächtnis uns aber gleichermaßen eine terra incognita ist wie das auch bei einem an Alzheimer erkrankten Menschen der Fall ist. Über die raue Zunge des Tieres, die Tafdrups Hand schleckt, heißt es, sie sage ihr: „… ich soll nicht ertrinken / in einer salzigen Träne, / die Katze macht einen Buckel, Zeit, ihr Futter zu geben.“
Pia Tafdrups Buch ist von schmerzlicher Schönheit, durchströmt von einer Innigkeit der Hingabe und Wahrnehmung wie sie nur dem poetischen Momentum aneignet, in dem das Aufscheinen der Welt mit ihrem Abschied einhergeht und so aufzeigt, dass die unvergänglichen Dinge mehr wehtun können als jeder andere im Verlauf des eigenen Lebens für wahr gehaltene Schmerz. Das Wort „Vater“ etwa existiert allen Verlust zum Trotz weiter als „vielfarbige Erinnerung“, in der die Tochter selbst für immer eingeschmolzen ist, gerade weil es heißt: „Ich habe meinen Vater an ihn selbst verloren.“
Pia Tafdrup, Tarkowskis Pferde. Gedichte. Ins Deutsche übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Peter Urban-Halle, Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017, 117 Seiten, 22.- Euro
FAZ, 25.1.2018 unter dem Titel „Die Brücke zum Gestern ist gesprengt“