10 Dez. Tagebuch der Trauer
Das Phänomen der entschwundenen Zeit war und ist für viele Schriftsteller und Denker ein wichtiges Thema in ihrem Schaffen. Man denke dabei nur an Marcel Proust, dessen gesamtes Lebenswerk daraus schöpft. Auch der französische Philosoph, Autor und Literaturkritiker Roland Barthes hat sich dieses Thema zueigen gemacht. Bekannt geworden ist er jedoch durch seine Analysen moderner Mythen; Essays wie etwa „Die Lust am Text“, „Mythen des Alltags“ oder „Fragmente einer Sprache der Liebe“ wurden beispielhaft für die Diskurse, die er mit ihnen auslöste und in denen immer auch die Sprache selbst Thema war, vor allem ihr „Rauschen“, wie es bei Barthes oft heißt. Genauso wichtig war ihm aber die Rückbezüglichkeit auf den Körper, dem er eine eigene Sprache zuwies. Dem Körper schrieb er eine erdende Bedeutung zu, denn der Geist, hatte er einst geschrieben, verselbständige sich allzu schnell und sei auf einen Widerpart angewiesen. Vor dem Hintergrund des Muttertodes ist diese Philosophie von besonderer Bedeutung, weil Roland Barthes nach dem Begräbnis in tiefe Trauer fällt.
Geboren wurde Roland Barthes 1915 in Cherbourg, einer Hafenstadt im nordwestlichen Frankreich. Er verstarb 1980 in Paris nach einem Zusammenstoßen mit einem Kleintransporter, es war ein tragischer Unfall, in den er unter unglücklichen Umständen verwickelt wurde. In die französische Hauptstadt war er gemeinsam mit der Mutter gezogen, mit der ihn eine intensive Beziehung verband. Nach nur drei Ehejahren war die Mutter im Alter von 23 Jahren eine Kriegerwitwe geworden. Als sie stirbt, ist sie 84 Jahre alt. Damals fing Roland Barthes an, sein „Tagebuch der Trauer“ zu schreiben, parallel dazu bereitete er seine in der Zwischenzeit berühmt gewordene Vorlesung „Das Neutrum“ am Collège de France vor. Das damals entstandene Tagebuch liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor. Versehen ist es mit einem Vorwort und zusammengestellt von der Kuratorin und Publizistin Nathalie Léger, die auch 2002 eine große Ausstellung zu Leben und Werk von Roland Barthes im Centre Georges Pompidou kuratierte.
Das Tagebuch handelt von einem einschneidenden Abschied, vielleicht dem größten, den jeder Mensch in seinem Leben früher oder später absolvieren muss: dem Tod eines Elternteils. Vielleicht ist dieser Moment für einen Bauarbeiter, Gärtner, Schriftsteller oder Sänger im gleichen Maße schon allein deshalb wichtig, weil sie ihn, ganz gleich wie alt er sein mag, noch ein einziges und nun das letzte Mal zum Kind macht. Dieses Tagebuch handelt vom Tod der Mutter eines Intellektuellen, vor allem aber lässt es uns an Gedanken und Zuständen teilhaben, die durch ihr Ableben ausgelöst werden. Was genau geschieht in Roland Barthes, der zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt ist? In kleinen Sätzen eröffnet er in einer klaren und sehr einfachen Sprache sein Seelen-Panoptikum, das aber an keiner Stelle entblößend oder intim ist. Hier ist ein Denker am Tun. Aber er stellt zunächst keine Fragen. Es sind kleine Beobachtungen, Fraktale von Gedanken, die er so knapp wie möglich aufs Papier bannt. Da heißt es einmal: „Sobald jemand gestorben ist, panisches Entwerfen von Zukunftsplänen (neue Möbel etc.): Futuromanie.“ Aber auch der Gedanke an den eigenen Tod ist ihm unvermeidlich. Einmal wird er nun als „erträglich“ beschrieben. Und kurz nach der Überlieferung der Leiche von Paris nach Urt notiert Barthes: „Gestampfter Boden, Geruch von Regen, schäbige Provinz. Und doch wieder eine Art Lebenslust (wegen des zarten Regendufts), eine allererste Entspannung, wie ein kurzes Zucken.“ Die Trauer wird mit dem Fortschreiten der Niederschrift immer konkreter: es fehlt die Stimme der Mutter. Der Klang. Ihr Blick, vor dem Fenster, nach draußen. Dann auch solche Notizen wie jene über die eigene Verblüffung, dass sie nicht „alles“ für ihn war. Sonst, hält Barthes fest, hätte er kein Werk geschaffen, hätte nie ein Wort geschrieben. Solange er sie über sechs Monate hinweg gepflegt habe, sei sie aber doch „alles“ für ihn gewesen. Vorher habe sie sich durchsichtig gemacht, damit er schreiben konnte. Dass ihn dieser Tod nicht vollständig vernichte, zeige recht besehen seine Entschlossenheit zu leben. Natürlich aber hat ihn der Tod verändert. Während er die Mutter pflegt, entwickelt er verschiedene Begehren. Nach ihrem Tod haben sie keine Bedeutung mehr für ihn, vor allem aber weisen sie ihn darauf hin, dass der Tod der Mutter alles verändert hat: auch das alte Begehren. Die Wohnung, in der er mit ihr gelebt hatte, ist nun leer. Er muss sie allein ausfüllen. Es gibt, schreibt Barthes, „keinen Ersatzort“. Am meisten verwundert ihn selbst die „Trauer in Schichten“. Er notiert: „Neue, seltsame Intensität, mit der ich die Hässlichkeit oder Schönheit der Leute (auf der Straße) wahrnehme“. Hier und dort scheint die Trauer sich zu verflüchtigen, doch dies ist nur der Anschein, ein Jahr später kommt es zu einem heftigen „Anfall von Kummer“ und er muss ganz plötzlich „weinen“.
Dieses Buch ist keine entblößende Selbstbetrachtung, es hat vielmehr an seinen intimsten Stellen etwas von großer Literatur. Genauigkeit der Betrachtung und Empfindung sind hier vor dem Hintergrund des Todes nahezu die logische Folge. Es ist bestürzend, mit welcher Beharrlichkeit dieser Schriftsteller sich seiner Trauer gestellt hat. Nur die Einsamkeit und die metaphysische Heimatlosigkeit können eine solche Genauigkeit in der Sprache nach sich ziehen. Dieses Buch ist aber ebenso ein literarisches Erbe, ein Werk, an dem man vieles lernen kann, mitunter auch, dass die Angst, selbst zu sterben, immer ein unbewusster Teil des Lebens ist. „Diese Angst (will ich) austreiben“, heißt es einmal im „Tagebuch der Trauer“, „indem ich dorthin gehe, wo ich Angst habe.“ Da der Selbstmord keine Alternative zum Leben ist, erschafft sich Roland Barthes einen Ort in der Sprache. Es ist ein vorläufiger Ort. Der Trost, den er zu bieten hat, liegt in der Genauigkeit seiner Beschreibung. Und ist ein tragbarer Ersatz-Ort, ein innerer Raum, in den er eintauchen und in dem er dem Tod im Denken begegnen kann.
Roland Barthes, Tagebuch der Trauer. Herausgegeben von Nathalie Léger.
Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Carl Hanser Verlag, Edition Akzente, 21,50 Euro, 265 Seiten, München 2010
ORF, 2010