Christine Lavant, Bis ich Gott habe - Marica Bodrožić
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Christine Lavant, Bis ich Gott habe

Marica Bodrožić

„Ich brauche einen Menschen, bis ich Gott habe“

Über die rettenden Elemente der Sprache bei Christine Lavant

Christine Lavants Erzählungen wurden einmal als „Prosa von fast quälender Hellsicht“ beschrieben. Ihren Texten bescheinigte man mehr als einmal eine ungeheure Suggestivität. Auch in ihrer Lyrik, die sie bereits um 1956 unter dem Titel Die Bettlerschale veröffentlichte, sind Daseinsnot und Verlustangst vorherrschende Sujets. Was in den Gedichten metaphysisch angedeutet wird, formuliert sie am Leben ihrer Figuren ebenso behutsam wie staunend in ihren Erzählungen. An ihren Figuren wird die Tiefenebene von Schicksal, Demut, Schmerz, Gottesausgeliefertheit und Leiden ergreifend deutlich. Es ist kein Zufall, dass sich Christine Lavant dafür Frauenbiographien ausgesucht hat, die manchmal vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens wie Spiegelversatzstücke ihres eigenen Selbst wirken. Christine Lavants Literatur ist der lebenslange Versuch, für das in der Seele wohnende Entsetzen einen Namen zu finden; ein Sprach-Ort soll geschaffen werden, an dem das tief Erfahrene zu Leben und Bewusstsein erweckt werden soll. Ein ganz eigenes Syntaxleben kommt dabei zustande und ist eine Art Lebensbrot für die Dichterin, mit dem sie sich über Wasser hält. Überhaupt scheint das Dasein ihr nur in der Poesie verstehbar; in jenen Lücken zwischen Ich und Absturz wird sie einer Rettung gewahr, die sich freilich immer nur in Aussicht stellt, aber nie einlösbar ist.

Geboren ist die Autorin im Juli 1915 als neuntes Kind einer bitterarmen Bergarbeiterfamilie in einem entlegenen Dorf bei St. Stefan im österreichischen Lavanttal, Kärnten. Nach dem heimatlichen Tal hat sie sich später auch genannt, wo sie, mit Ausnahme von zwei Jahren, bis zu ihrem Tod 1973 ausschließlich lebte. Zahlreiche Preise wurden ihr zuteil, darunter 1954 und 1964 der Georg Trakl-Preis für Lyrik und 1970 der Große Staatspreis für Literatur. Bis zu ihrem Tod habe sie, schrieb Thomas Bernhard, weder Ruhe noch Frieden gefunden. Er befand, Lavant sei in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt gewesen, „ … zerstört und verraten in ihrem christlich-katholischen Glauben (…); es ist das elementarste Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.“ Schon sehr früh durchlitt Christine Lavant alle Elendsstationen von Armut und Krankheit. Nur knapp überstand sie als Kleinkind einer unnachgiebigen Lungentuberkulose und bekam zudem noch die Skrofeln, eine Hautkrankheit, die beinahe zur Erblindung führte. Diese entstellenden Veränderungen im Bereich der Haut und der Lymphknoten betrafen vor allem Gesicht und Hals. Im Alter von zwanzig Jahren ging Christine Lavant nach einem Suizidversuch für sechs Wochen in die „Landes-Irrenanstalt“ in Klagenfurt. Ihr Buch Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus ist die literarische Studie des von ihr persönlich und offensichtlich ohne ärztlichen Ratschlag angestrebten Aufenthaltes. Man behandelte sie dort mit einer sogenannten Arsen-Kur. Diese Zeit hat, so wurde einmal über sie geschrieben, nur eine Konfrontation mit den Leiden der Geistesgestörten zustande gebracht, leider aber keine Heilung. Man kann sich gut vorstellen, dass diese Begegnungen sogar das Grauen der Verzweiflung noch vertieft haben. Die christliche Bildwelt der Autorin erhielt nur noch eine intensivere Grundierung.

Die Zeit der Umhergetriebenheit und Schlaflosigkeit, die in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus festgehalten wird, ist auch in den hier vorliegenden Erzählungen überall spürbar. Manche Passage erscheint als verzaubert-verdichtete Innenwelt zum Tragen. Immer wieder wird in den Geschichten der Bezug zum Wunder gesucht. Wenn es dann da ist, wird es zweifelnd beäugt: „… das Wunder ist leider schon unterwegs, immer sind Wunder gerade unterwegs, wenn man sie nicht mehr will oder braucht.“ Die Verzweiflung, die aus den Figuren wie greifbares Metall dem Leser entgegenschaut, braucht sofortige Erlösung. Bei dieser Art von Not kann das Wunder immer nur zu spät kommen. Leichtigkeit kommt selten als Wort oder Zustand bei Christine Lavant vor. Und wenn, dann liegt in ihm eine der Autorin ureigene Schwere. Erleichterung vermag, wenn überhaupt, nur Gott selbst zu vollführen. Dann sehen große Blumen wie Gesichter aus und in ihnen werden „die jüngsten Engel“ vermutet – „und auch Vögel“. Natürlich können das nur „Himmelsvögel“ sein, weil sie, so wird erklärend hinzugefügt, „so schöne Farben haben“. In den hier vorliegenden Erzählungen kommen neben den Wundern am häufigsten Vögel vor, als tröstende Wesen oder als eine Art Verlängerung der Freiheit, die sich aber nie einlöst. Gebete sind verwandt mit den Vögeln. Und bevor die Demut in den Lavant’schen Figuren zum Tragen kommt, durchlaufen sie auch Irrwege, versuchen sich im „Handel mit Gott“. Da wird Gott angefleht und erpresst, die Frauen „jäh vom Gebet überfallen“. Doch mit Gebeten werden Lavants Figuren nur etappenweise erlöst. In der Erzählung Das Kind wird das mehrmals wiederholte Gebet als tiefe Befreiung erfahren, wenn gesagt wird: „ … wenn ich einmal am Abend sehr viel bete, alles zehn mal nacheinander. Die blauen, die roten und weißen Gebete. Das rote, das von der stillen Abendstunde und dem Herz Jesu sag ich vielleicht noch öfter, weil es so schön ist wie ein Samtkleid …“

Der Erzählung Das Kind, zum ersten Mal 1948 publiziert, ist ein Motto vorangestellt. Darin heißt es Den Unmündigen wird es offenbar werden! Immer wieder ist dies ein Grundfluidum im Lavant‘schen Prosa-Werk: Von Gott Gezüchtigte sind jene, die von Gott nicht verachtet, sondern gerade jene, die von ihm geliebt werden. Die Mittel der Welterklärung basieren auf einfachen kindlichen Glauben an Zauberei. Hier sind Feen und Engel alltägliche Helfer, liebevoll ersehnte und vertraute Erscheinungen. „Ja, mein Gott“, heißt es an einer Stelle“, „… es ist schon so – den starken Engel – aber einen ganz starken – wirst du mir schon heute schicken müssen.“ Die „Dimension des Unerreichbaren“ wird noch durch die extrem ausgeprägte Sehschwäche des Kindes unterstrichen. Auch wenn die Engel dem mit Kurzsichtigkeit gestraften Kind häufig in seiner augenblicklichen Bedürftigkeit nicht beistehen können, sind sie doch zuverlässige, in jedem Fall unentbehrliche Stützen und über lange Strecken der Verzweiflung eine entscheidende Brücke zur Hoffnung. Die Phantasie des Kindes ist am Ende stets frei und nicht immer dem Lichtvollen zugeneigt. Der Regen beispielsweise wird oft beschrieben, er scheint von der Klinik aus „verdrossen“ zu sein. Zuhause würde es auf diese Weise nie derart „unfreundlich“ regnen. In den Türen will das Kind bald schon richtige Feinde entdeckt haben – über diese heißt es, sie würden nur so tun, als seien sie Türen, wären aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes: „ … ein Gang, der wie die Ewigkeit ist. (…) Niemand ist da daheim. Bloß der Primariusdoktor, aber der ist ja kein richtiger Mensch. Der gehört ja zu den Türen, die auch keine richtigen Türen sind, und wohnt wahrscheinlich von Rechts wegen im Himmel. Der wird wohl auch wissen, was das ganz Schwarze oben bei den Türen ist. Er weiß ja alles!“

Wieder und wieder werden Dinge und Menschen von der Erzählerin Christine Lavant überhöht. Hier ist es der Primariusdoktor, der auch gelegentlich mit einem christusgleichen ER bedacht wird. Sein Blick wird als etwas Heiliges erfahren. Seine „Gläseraugen“ funkeln wie die Sonne. Richtige Augen hätte er nicht, malt sich das Kind aus, diese, so seine Vorstellung, habe er „bestimmt einmal einem ganz blinden Kind geschenkt“. Die in solchen Passagen überwiegende Kindlichkeit vermag, trotz tief verankertem Leid, noch am ehesten eine ungetrübte reine Liebe auszudrücken, die in den Gedichten von Christine Lavant durch laut aufbrausenden Zorn oder direkte Anklage oft überdeckt und im Hintergrund gehalten wird. Wenn sie auch sehr in den sakralen Raum verschoben wird, bleibt diese Liebe dennoch auf eine eigenartige Weise gebunden an konkrete Menschen, Dinge und Orte, wie es sich auch mit der Traurigkeit im gleichen Maße verhält. Gerne möchte das Kind dem Arzt sein Haar schenken, das Einzige, was es noch wirklich zu besitzen scheint. Der Arzt soll es an seine kurzhaarige Tochter weitergeben. Freilich hat es auch Angst, dass ein solcher Herr ihr Geschenk gar nicht annehmen mag, das Geschenk eines wundenübersäten Mädchens. Deshalb glaubt es, man müsse den Primarius zuerst verzaubern, damit er diesen Umstand vergisst.

Stets aber lauert in diesem Werk auch die Dunkelheit. Die Kraft des Bösen ist hier ebenso am Tun wie der Glaube an das Gute: „Dass ein Tag so bis zum Rande voll Bösartigkeit sein kann! Der Gang war noch nie so glatt, das Schwarze hoch oben an den Türen noch nie so schwarz und so drohend.“ In einem ihrer Gedichte stellt Christine Lavant die Frage nach dem Wohnort der Furcht. Vor allem in Kindern und Frauen, die sie in ihrer Prosa beschreibt, ist die Furcht gegenwärtig; selbsttätig wirkt und wuchert sie sich aus. Dabei wird die Furcht, exemplarisch in der Brief-Erzählung Die Schöne im Mohnkleid, als  eine eigene „Kraft“, als starke und übermächtige Energie verstanden. Und in der Kurzerzählung Nell wird über die weibliche Hauptfigur gleichsetzend gesagt, sie hätte nichts, was sie sich zu Herzen nehmen könnte, „weder eine Furcht noch eine Hoffnung“. Die Vorstellung, einer Verzauberung anheimzufallen, von der Erde und aus der Menschenwelt fortgetragen zu werden, ist wie ein Substrat in den erzählerischen Arbeiten vorhanden. Dabei scheint häufig der Tod als letztmögliche, als einzige Erlösung. Befremdend wirkt jedoch dabei, wie die Figuren der Christine Lavant ins Leiden eingebunden sind, wie wenig ihnen das Frohsein auf Dauer gegeben ist. Die Last, die sie tragen müssen, ist meist übermenschlich schwer, und deshalb nur durch den Schöpfer selbst aufhebbar. Dennoch wird im Guten beschworen, und es wird gehofft, dass „der Zauber“ für alles stark genug ist. Die Bereitschaft zu leiden und sich ins „Unvermeidliche zu fügen“, scheinen grenzenlos zu sein. Ausgesetzt der eigenen Ausmalungskraft der Phantasie, ist in der Erzählung Das Kind das wundenübersäte Mädchen sogar bereit „ins Wasser“ zu gehen. Geplagt wird es von der Vorstellung, der sie behandelnde Arzt – ihr Erlöser – könnte über einen „Zauber“ verfügen, mit dem er alle ihre Gedanken lesen kann. Wie immer in den erzählerischen Arbeiten von Lavant, herrscht in solchen Passagen geradezu eine vormythische Glaubensbereitschaft; die Figuren sind eingewoben in ein Gesamtfluidum, das sich immerwährend auf sie auswirkt und dem sie ausgeliefert sind. Das Mädchen hatte beispielsweise einmal aus Ferne jemanden über das „Ins-Wasser-Gehen“ reden gehört und schon hat es sich dieses Bild regelrecht angeeignet: „Einmal, wie es bei den großen im verbotenen Pavillon war, haben sie davon geredet, dass ein junges Mädchen ins Wasser gegangen ist. Wegen unglücklicher Liebe, haben sie gesagt, das hat es sich genau gemerkt. Und das muss etwas Großes, Wunderbares und Trauriges sein, eine unglückliche Liebe.“ Manchmal hilft den Lavant’schen Figuren kein Glaube und kein Gebet weiter, alle Engel scheinen woanders beschäftigt zu sein. In solchen Momenten vermag die Dichterin eine große Ausweglosigkeit des Menschen spürbar zu machen. Es sei schließlich gleichgültig, von welcher Seite her man aufgefressen würde, heißt es einmal in der Erzählung Nell. Die Märtyrer hätten sich auch nicht darum gekümmert, von welcher Seite her die Bestien auf sie zukamen.

Wie es auch bei allen christlichen Mystikern beschrieben worden ist, folgt der Marterung ein Zustand, in dem der Mensch von Gott geliebt wird. Eine Art Gesang der Seele stellt sich die Erzählerin offenbar darunter vor, wenn sie schreibt: „Es schien ihr, als sei kein Sonnenaufgang, kein Sternenschein, kein Falter oder Vogel, keine Blume und überhaupt keinerlei Entzücken der Erde möglich, wenn nicht irgendwann einmal Menschen unter äußersten Qualen gesungen hätten. Sie liebte Gott wieder … Sie geriet nämlich in den Zustand des In-der-Sonne-Lehnens.“ Die Erfahrung der Zeit in solchen Augenblicken des In-der Sonne-Lehnens gleicht jener des jüdisch-polnischen Schriftstellers Bruno Schulz. Wie in seinen Erzählungen durchdringt die Helligkeit auf eine schmerzhafte Weise die Sätze. Das „Schöne“ und das „Traurige“ tun auf gleiche Weise weh. Die Vergänglichkeit des Lebens und die Wiederholbarkeit des Leidens werden immer wieder vor Augen geführt; die Menschen in diesem Werk sind aber auch bereit, über sich und die ihnen auferlegten Grenzen hinauszugehen, selbst wenn dies sie auf eine Weise beansprucht, dass sie am Ende daran sterben müssen. Die krebskranke Nell beispielsweise versucht sogar zum Bischof vorzudringen, weil der Dorfpfarrer an ihr Zimmer angrenzend die katholische Jugend untergebracht hat, die ihren kranken und überarbeiteten Mann fast zum Mörder werden lässt. Trotz ihres inneren Zustandes, der qualvollen Umhergetriebenheit beim Ersuchen der „Eminenz“ – sie hat nur Verachtung für dieses lächerliche Wort –, muss sie feststellen, dass sich „draußen“, in der äußeren Welt, nichts verändert hat. Alles geht seinen gewohnten Gang: „Draußen sang immer noch die Amsel. Wie lange, mein Gott, hält es denn so ein Vogel aus, zu singen? Nell hatte nicht einmal die ganze Minute zu beten vermocht. Wie beschämend!“ Die Selbstfindung scheint nur in biblischen Dimensionen erreichbar; Wandlung und Liebesfähigkeit nur im Durchschreiten der äußersten Grenzen des Schmerzes erfahrbar. Von „Muttergottestränen“ ist da häufig die Rede und vom menschlichen Geist, der als „unendlich erfinderisch“ bezeichnet wird, wo es um die nackte Selbsterhaltung ginge. Bei jedem Schritt, mit welchem man sich selbst annähere, begebe man sich mehr und mehr auf schweres und gefährliches Terrain. Wer würde sie nicht kennen, die Stunden vor dem Spiegel, schreibt Lavant, in denen das Licht jene Halbheit erreiche, die nötig sei, um jenen Zustand herbeizuführen, der es einem möglich mache, auf sich selbst wie einen Zweiten zuzugehen. Wie viel Mühe und Aufwand dies immer wieder erfordert, das weiß Christine Lavant selbst mehr als gut. Oft habe sie ein solch immenses Ausmaß an Kräften hierfür verbraucht, dass es sie hinterher gewundert habe, ihr eigenes Herz noch schlagen zu hören. Ihr selbst, notierte Christine Lavant einmal, graue es vor ihren Gedichten und eigentlich vor aller Kunst. Sie passe nicht zu ihr und sei doch nur ein unbegreifliches Zwischenspiel gewesen. Das mag doch sehr damit zusammenhängen, dass sie mittels ihres Werkes an das Glück im Leben zumindest heranreichen und über Sprache das Sein berühren wollte. An die Dichterin Hilde Domin schrieb sie in einem undatiert gebliebenen Brief, dass sie das Leben unbedingt der Kunst vorziehe, „ganz gleich auf welchen Verlust hin“. Sie sei nun einmal „100prozentig“ für das Leben, obwohl sie das ihre als „eigentlich gar keins“ sah. Die Frage, ob dies gerade deshalb der Fall gewesen sein mochte, stellt sie schon in gleichen Brief selbst. Sie lässt sie unbeantwortet.

 

Auch wenn Hoffnungslosigkeit und niederschmetternde Erfahrungen um sich greifen, bleibt Christine Lavant tapfer, verfällt auch niemals ins Lamentieren. Ihr Prinzip „Alles geschehen lassen“ mag da manchmal auch nicht tröstend ausgeholfen haben können. Dennoch behalten Mut und Zuversicht überhand, und in diesem Sinne wird im gleichen Brief an die Vertraute Hilde Domin gesagt: „Draußen weht Föhn. Früher half mir das viel, jetzt nicht mehr. Aber schön ist es trotzdem und überhaupt alles ist trotzdem schön! Alles Wesentliche! Am Seienden änderte sich ja nichts, wenn einer der vielen Kanäle des Schöpferischen verstopft ist, dafür entstehen immer neue.“ Die Sprache ist immer das einzige ersehnenswerte Land der Christine Lavant geblieben, die über sich sagte, im Mittelpunkt von Verlassenheiten zu stehen, aus denen die Strahlungen des Ich fortgeschleudert werden. War es, trotz des großen Werkes, das sie uns hinterlassen hat, ein Absturz in die Seele? Lange habe sie im Irrtum gelebt, keine Kindheit gehabt zu haben, weil sie bloß dem nachgegangen sei, was hart und bitter darin war. Eine böse Lust sei es, die erfahrenen Schmerzen lange auszudehnen. Sie selbst habe wie eine Verstoßene gelebt und keinen der Engel begriffen, die in den Träumen versucht hatten, sie auf eine andere Spur zu leiten. Die Verbindung von Sakralem und Erdgebundenem geschieht gerade in den Momenten des Zweifelns und der drängenden Anbetung; das angesprochene und tief gemeine „Du“ besitzt Wirklichkeitsqualitäten. Ihre Sprache lebt von den sich darin entwickelnden Kraftfeldern. Ihre am häufigsten gebrauchten Wörter sind denn auch, vor allem in den Gedichten, Sterne, Mond, Kreuz, Nacht, Engel, Hunger, Sonne, Augen, Kern, Schutzgeist, Gebet, Mund, Ohren. Die Stille wird von ihr als „Eingang des Geistigen“ verstanden. Die Wegmarken dieser Sprache der Stille sind bei Christine Lavant in einer magischen Vorstellungswelt zu suchen. Das Bild von der Stille als „versiegeltem Beharren“ ist dafür das denkbar beste Beispiel; heraus kommt eine kunstvolle Kunde, ein Sprachgebet. 1973, in ihrem Todesjahr, schrieb Christine Lavant an ihren Arzt, den Psychiater Otto Scrinzi, obwohl sie krank sei und fast nie ohne Schmerzen, werde ihr das eigene Leben durch seine „zarte Güte“ immer lieber. Elend und ohnmächtig stünde es um sie, aber ihr Schicksal würde dadurch gerecht, dass es ja ihn gebe. Immer ist diese Konstellation in Leben und Werk der Lavant vorhanden: ein potentieller Erlöser und Retter steht ihr, der Schwachen und Schmerzgeplagten, kraftvoll, wissend und gesund gegenüber. Der „zarte Faden aus Gnade“ liegt in den Händen des „Väterchen(s) der Hoffnungslosen“, wie sie Otto Scrinzi liebevoll bezeichnet. Ihm beteuert sie, dass sie sich nichts antun würde, was ihr vom Kosmischen nicht schon angetan worden sei.

Stets ist sie auf der Suche nach einem zuhörenden Gegenüber. Mitte der fünfziger Jahre meint sie ein solches Gemüt in dem Dichter Ludwig von Ficker gefunden zu haben, an den sie schreibt: „Um es noch einmal und ganz klar zu sagen: Kreaturen meiner Art, die sich erst entkrampfen müssen, um endlich eine Mitte zu bekommen, welche kein Knoten ist, brauchen als Erstes und Wichtigstes einen Menschen, der in ihnen Ehrfurcht und Vertrauen auslöst, und ich glaube, dass Sie, verehrter Herr von Ficker, dies bei mir vermögen. An diesem Brief sind Herz und Verstand beteiligt und somit Hoffnung und Einsicht. – Ich brauche einen Menschen, bis ich Gott habe.“ Befremdend und zugleich ganz natürlich wirken diese Zeilen der langjährig unter körperlichen Schmerzen leidenden Christine Lavant. Das Gleiche gilt für ihre Aussage, sie habe das Wort „Gnade“ nie gefühlt. An Hilde Domin schrieb sie 1960, sie glaube nicht an Gnade. Es gehe ihr dabei wie mit dem Wort „Opfer“. Sie bekomme weder ein Bild noch einen Geschmack davon und nehme nichts wahr. Als Gnade könne sie sich noch am ehesten den Zustand denken, „…wo man so gründlich zusammengeschlagen ist, dass sich in dem Brei einfach nichts mehr rührt, dass jeder Griff daraus machen kann, was immer er will. (…) Vermutlich bin ich im Kern trotz meiner Hilflosigkeit verdammt aktiv, viel zu viel, dass ich einmal in den Zustand der Gnade käme.“ Vielleicht gehört zur Gnade aber auch das völlige Leisesein, die gänzliche Zurückgenommenheit des schreienden und anklagenden Ichs. Selbst wenn Christine Lavant von sich sagt, diese Art von Stille nie erfahren zu haben, so gilt doch ihr Werk als Gegenbeweis. Auch der lauteste Schrei ist im Schreiben umsäumt von Stille. Der Leser geht hinein in diese Stille, er ist in der Kette der Schweigenden der letzte, er ist der von Beginn an gemeinte Empfänger der Gnade.

 

Text von 2003, erschienen in  „Kafka“, der vom Goethe Institut herausgegebenen „Zeitschrift für Mitteleuropa“ – und als Nachwort einer italienischen Übersetzung von Christine Lavants Erzählungen