Mitarbeit der Träume - Marica Bodrožić
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Mitarbeit der Träume

Alfred Kubin, der 1877 zur Welt kam und 1959 verstarb, gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Illustratoren des 20. Jahrhunderts. Die wenigsten wissen jedoch, dass er auch der Verfasser eines phantastischen Romans ist. Veröffentlicht hat er ihn im Jahre 1909 unter dem Titel „Die andere Seite“. Zehn Jahre zuvor war Sigmund Freuds Maßstäbe setzendes Werk „Die Traumdeutung“ erschienen, das Buch ist also in einer Zeit entstanden, in der die Träume noch ein unbekanntes Land waren und genau darin lag auch damals die Faszination dieses Romans. Wenn auch der Allgemeinheit bis heute weitgehend unbekannt, zählt „Die andere Seite“ aber doch zu den Klassikern der phantastischen Literatur. Der Suhrkamp Verlag hat es nun mit 51 Zeichnungen des Autors neu aufgelegt. Der Schriftsteller Joseph Winkler hat Kubins Buch mit einem Nachwort versehen. Winklers Betrachtungen zu Leben und Werk Kubins zeigen deutlich, welche Rolle das Unbewusste in Alfred Kubins Werk einnimmt. Früh war er mit dem Tod der Mutter konfrontiert worden; im Alter von zehn Jahren wurde er von einer älteren, hochschwangeren Frau sexuell missbraucht. Der Vater züchtigte den Jungen bei jeder noch so kleinen Gelegenheit, die sich ihm anbot, um sein eigenes Unglück an dem unschuldigen Kind abzureagieren. Kubins gesamtes Werk wirkt auch bei näherer Betrachtung wie durch eine Schattenwelt gezogen, von der er sich nie wirklich befreit hat. Der hier vorliegende Roman, den Alfred Kubin in einer schweren Lebenskrise in sehr kurzer Zeit niedergeschrieben hat, handelt von einem Traumreich, das zunächst verlockend und hell, ja visionär paradiesisch erscheint. Doch schon nach kürzester Zeit entpuppt es sich als der Vorhof zur Hölle und mündet für den Erzähler und dessen Ehefrau in einem dreijährigen Aufenthalt in einem Diktaturstaat.Der Erzähler des Romans wird eines Tages überraschend in seiner Wohnung aufgesucht. Ein Mann wird bei ihm vorstellig und bietet ihm eine ungeheuerliche Reise an. Statt nach Indien soll er nun mit seiner Ehefrau in ein Phantasieland fahren. Anfangs sträubt sich alles in ihm dagegen, doch die Verlockung einer Traumreich-Reise ist zu groß. Er lässt sich auf das Angebot des Fremden ein. Dieser gibt ihm eine große Summe Geld und berichtet, im Auftrag seines einstigen Schulkameraden Patera zu handeln. Patera ist der Vorsteher und Erfinder dieses Reiches. Irgendwo im Inneren Asiens soll es sich befinden und ist in Wirklichkeit ein Überwachungsstaat. Doch dies erfahren die Eheleute erst vor Ort. Der Endzeitstimmung folgt eine gleichsam automatische Entindividualisierung aller Bewohner. Sie drückt sich beispielsweise darin aus, dass man keine eigenen, sondern nur die Kleider der Eltern und Urgroßeltern tragen darf. Die so genannten „Traumstädter“ passen sich immer mehr den Konditionen der Diktatur an. Da heißt es etwa an einer Stelle: „Man gewöhnte sich im Traumland derart an das Unwahrscheinlichste, dass einem nichts mehr auffiel.“ Manipulation, Bösartigkeit, Betrug, Suggestion und andere seelische Taschenspielertricks sind im Traumreich an der Tagesordnung. Über drei lange Jahre hinweg erfahren die Eheleute am eigenen Leib die Wirkkraft des Bösen, bis sich Pateras Reich selbst in einem Krieg des Bösen gegen das Gute auslöscht.

Alfred Kubin hat in seinem einzigen Roman einen grandiosen Schauplatz der Imagination geschaffen, der seinerzeit große Wirkung auf die expressionistische und  nachexpressionistische Literatur ausübte. Noch hundert Jahre nach seinem Erscheinen bleibt dieses Buch interessant – zum einen als Zeitdokument einer persönlichen Krise und zum anderen als Entwurf einer parabelartigen Bildwelt, wie wir sie auch von Franz Kafka kennen. Allerdings hat es Kubin nie geschafft, an jene lakonische Meisterschaft Kafkas heranzureichen, die ihn als Schriftsteller unsterblich gemacht hätte. Heute können wir mit der entsprechenden historischen Distanz Kubins Welt deuten und auch von ihr lernen. In der Pionierszeit der Psychoanalyse hat „Die andere Seite“, und das ist kein geringer Verdienst, dazu beigetragen, die Wahrnehmung seiner Leser grundlegend zu verändern.

 

Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Nachwort von Joseph Winkler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 309 Seiten, 25.- Euro

 

ORF, 2009