ICH SUCHE DAS WORT - Marica Bodrožić
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ICH SUCHE DAS WORT

Zum 100. Geburtstag von Wisława Szymborska –  In einem Jahrhundert voller Verwerfungen, die Krieg, Besatzung und kommunistische Herrschaft nach sich zogen, kam Wisława Szymborska 1923 im polnischen Bnin, heute ein Stadtteil von Kórnik, bei Posen zur Welt. Sie starb 2012 im Alter von 88 Jahren in Krakau. 1996 machte sie der Nobelpreis für Literatur weltberühmt. Ihr autonomes Staunen und ihr Wissen um die Abgründe, die Hass und Barbarei nach sich ziehen, entsprang von Beginn an ihrer ureigenen Wahrnehmung von Leben. In ihrer Sprache legte sie mit diesem Staunen, das recht besehen Klarsicht ist, eine unsichtbare Fährte für ihr ganzes lyrisches Werk. In ihrer Nobelpreisrede, die sehr kurz ausfiel, hat sie das erläutert, was in ihren Gedichten als geistiges Kontinuum immer mitgeht: „Was immer wir von dieser Welt denken – sie macht uns staunen. Im Begriff ‚Staunen‘ steckt jedoch eine logische Falle. Wir bestaunen schließlich das, was von bekannten, allgemein anerkannten Normen abweicht, von der Selbstverständlichkeit, die wir gewohnt waren.“ Eine selbstverständliche Welt aber gebe es überhaupt nicht. Unser Staunen sei autonom und ergebe sich aus keinem Vergleich. Diese Beziehung zur Unvergleichlichkeit ist die Grundlage für einen ganz eigenen Blick, der Lakonie und Ironie, Verspieltheit und Hingabe, spirituelle Funken und Zeitgeist, aber auch Natur, Geschichte und Körperlichkeit eigensinnig miteinander in Beziehung setzt. Von der Unvergleichlichkeit des einzelnen Menschen sprach auch der Dichter Ossip Mandelstam als er sagte, „vergleiche nicht – ein Lebender ist unvergleichlich“. Anders als er, der wegen einem kritischen Gedicht über Stalin in ein eisigkaltes sibirisches Straflager bei Wladiwostok verfrachtet wurde, in dem er 1938 starb, schrieb die junge Dichterin Szymborska ein Stalin huldigendes Gedicht. Später bereute sie das zutiefst und ging durch eine Lebensschule der ethischen Genauigkeit, die ein Beispiel beeindruckender Selbsterziehung in ethischer Nordung darstellt. „In Menschheitsgeschichte geprüft“ hat sie gezeigt, dass jedes Leben mit seiner Zeit in Verbindung steht und dass es möglich ist, aus eigenen Fehlern wahrhaft zu lernen, das heißt, in ihrem Sinne, wahrhaft zu sein. Wer immer nur Antworten kennt, wird diesen Weg der inneren Aufrichtigkeit nie gehen können. Deshalb stellte sich Wisława Szymborska nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihrer Dichtung Fragen. Daran versuche ich mich in meinem eigenen Tun immer wieder zu erinnern, wenn ich glaube, eine Antwort sei der Weg und ich sehe dann wieder ein, dass der Umweg mir wichtige Zeichen zuspielt und neue Fragen reicht.

 

„Ist denn von Mensch zu Mensch / alles so selbstverständlich“, will Szymborska auf ihren eigenen Sprachwegen wissen und fragt auch, „Ob du, für das Glück der Jahrtausende / mitverantwortlich“ bist – „für die einzelnen Minuten, / die Tränen im Gesicht.“ Liebe und Freundschaft erscheinen ihr auf diesem Weg als Arbeitsfelder des lyrischen Ichs. Diese sind zeitgleich auch metaphysische Fragezeichen: „Bist du sicher, alles / im Menschen lesen zu können?“ Und wer von uns kann das bejahen, wer kann wissen, was andere zu tragen haben? In dieser diskreten Zurückgenommenheit, die ihr Schauen und Staunen bestimmt, ist eine große Autonomie am Werk. Selbst das Tasten wird als Schaffensprozess der menschlichen Seele erkannt und die Dichterin verzichtet dabei auf Deutungshoheit. Das ist für mich das Kraftzentrum jeglicher Poesie, der Mittelpunkt der schöpferischen Welt, die durch das Sehen verwandelt und nicht bloß in Besitz genommen oder korrigiert wird. Von Beginn an ist für Wisława Szymborska die Suche nach dem Wort eine Art Klettergerüst zwischen Innen und Außen und in ihrem Werk hat się dabei nicht nur Zeit und Raum durchdrungen, sondern einen Durchgang zwischen ihnen erbaut. In einem ihrer ersten Gedichte spricht się schon vom Wissen um diese Welt. Się blendet den Krieg dabei nicht aus, das Leiden und Sterben der europäischen Juden, später Korea und Vietnam, alles findet eine Beachtung bei ihr – aber die Geschichte schmettert, so heißt es einmal, keine Fanfare, sondern streut uns „schmutzigen Sand in die Augen”. Trotz Krieg und Barbarei erlebt das lyrische Ich eine tiefere Verbindung zur Welt, die sich bis zum Schluss erhält – und nennt es „das Echo alter Wahrheit in Gebeten”.

An „bitterem Brot” und „vergifteten Brunnen” vorbei wirkt sich das Wissen um den Urgrund aus, das der Zerstörung im eigenen Inneren standhält. Es ist „so groß, dass zwei im Händedruck” się fasssen können. In diesem Verhältnis von Körper und Wärme und im Beziehungsgefüge zwischen Einzelnen erschaffen die Gedichte dieser Lyrikerin einen Platz für eine „Güte, die nicht Entsagen” ist, sondern Öffnung und die Fähigkeit, in Verbindungen zu sehen. So ist auch in dem frühen, bereits erwähnten Gedicht „Nichts geschieht zweimal” die Möglichkeit durchdacht, jenseits von Routine zu leben – denn auch das Sterben kann nicht geübt werden, es ist uns wie das Leben einmalig auferlegt. Die vergehende Zeit wird jedoch nicht als Bedrohung, sondern als Setzung und Klarheit erlebt: „Kein Tag wird sich wiederholen, / keine Nacht, denn się entrücken, / es gibt nicht zwei gleiche Küsse, / zwei wiederholbare Blicke.”

 

In jeder Zeile dieser Dichterin leuchtet Genauigkeit ihrer Gedanken- und Bildwelt. In ihren „Anregungen für junge Literaten” schrieb się einmal die für się selbst programmatische Auffassung nieder, das Talent beschränke sich nicht auf „Inspiration”, die einen jeden hin und wieder ereile, aber nur Talentierte seien imstande, stundenlang über einem Blatt Papier zu sitzen und das Diktat des Geistes zu vervollkommnen: „Wer das nicht will, der ist,” sagt się weiter, „ganz offensichtlich nicht zur Dichtung berufen. Daher das seltsame Phänomen, dass es Unmengen inspirierter Vielschreiber gebe, aber nur wenige wirkliche Dichter. So war es früher, so ist es heute, und so wird es in Zukunft sein.” Die Kraft und den Atem, jene andere Art von Ausdauer, hat sich in Szymborskas Werk einen eigenen Weg gesucht, der von Stille durchdrungen ist, die ihr so wichtig war. Anders als vielen ihrer schreibenden Kollegen und Kolleginnen, die den Nobelpreis erhalten haben, ist es ihr gelungen, aus dem Zirkus der Öffentlichkeit und ihren schnelllebigen Inszenierungen auszutreten und in der Stille zu arbeiten, die ihr immer Zuspielerin des wirksamen Schweigens war. Vielleicht hat się den Grund dafür selbst in einem ihrer Gedichte benannt, als się schrieb: „Am liebsten beachte ich tatächlich die Möglichkeit, / dass das Dasein seine Berechtigung hat.” In dieser Konsequenz hat się das Sehen und Durchdringen der Welt als Gegengift zum sinnlosen Tun erfahren und das „Heilige musste / die Gnade wie eine Nuss empfangen.” Zwischen Menschen und Tieren, zwischen Himmel und Erde, zwischen Zeit und Raum haben sich ihre großen Themen einen klaren Ort der Zugewandtheit erobert und mit feiner Ironie und in konzentrischen Kreisen ist eine Welt entstanden, die alles Lebendige in einen atmenden Zusammenhang stellt.

 

Empfohlene Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag

 

– Wisława Szymborska, Gesammelte Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 435 Seiten

– Wisława Szymborska, Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln. Anregungen für angehende Literaten. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 151 Seiten

– Marta Kijowska, Nichts kommt zweimal vor. Wisława Szymborska. Eine Biographie. Schöffling & Co Verlag, Frankfurt am Main 2023, 314 Seiten

 

ORF Juli 2023