Verflüssigung der Zeit - Marica Bodrožić
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Verflüssigung der Zeit

Wenn der Weg uns genauso wenig wie Gott braucht, dann muss jeder Schritt eine Frage sein, hin zu den offenen Türen, die niemand versperren kann, auch wir selbst nicht. Die kanadische Schriftstellerin Anne Carson weiß wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor um die trickreichen Verschmelzungen der Wirklichkeit, die wir unser Leben nennen. In ihrem Buch „Anthropologie des Wassers“ begibt sich die 1950 in Toronto geborene Altphilologin auf eine innere Reise, die in drei Sphären absolviert wird und drei Versuche umfasst: ein Versuch über den Jakobsweg, eine Umkreisung über die Verschiedenheit von Männern und Frauen in Nordamerika und ein Text über das Schwimmen, in dem der früh verstorbene Bruder der Autorin zentraler Meditationspunkt ist.

In dieser Prosaarbeit spielt Anne Carson in poetischer Radikalität das durch, was auch in ihren anderen Büchern stets durchscheint: Was geschieht mit dem Menschen, wenn er „im Inneren einer Frage“ erwacht? In jedem Fall ist es dann „höchste Zeit“, wie es einmal verrätselt bei ihr heißt. Das Enigmatische und das Heilige, das Konkrete und das Staunenswerte – die Verquickung von Schmerz, Verlust, Liebe und Weisheit: in der „Anthropologie des Wassers“ sprechen sie einander immer zu, bedingen einander, tragen auch den Leser in seiner Fähigkeit zur Imagination, die befeuert wird von der Sprachwelt Anne Carsons. Das beglückend Erstaunliche an Anne Carsons Prosa ist ihre zeitgleiche Gedankentiefe und poetische Leichtfüßigkeit. Das verdankt sich in diesem Buch nicht nur ihrer Versenkung und Durchdringung alter zen-buddhistischer Weisheiten, die immer wieder als Motti einzelner Kapitel auftauchen, sondern auch der makellosen, poetisch bestechend genauen Denk- und Spracharbeit ihrer deutschen Übersetzerin Marie Luise Knott, die auch ein aufschlussreiches Nachwort geschrieben hat. Mit der „Anthropologie des Wassers“ ist der in Nordamerika schon seit langem gefeierten Anne Carson eine Wallfahrt der Imaginationskraft, eine Poesie der Blickverdichtungen gelungen. Sie zeigt, dass man viel wissen muss, um ins ewige Staunen zu geraten. Und der übersetzte Text findet für die Biegsamkeit des so einfachen wie hochkomplex-erratischen Englisch des Originals einen schönen, überzeugenden Klang und einprägsame Bildlichkeit im Deutschen, wie etwa an einer Stelle, an der das pilgernder Paar von Hier und Jetzt ins elfte Jahrhundert befördert wird: „Schau zurück – wie zu unseren Füßen alles festgesogen wird, tausend Meilen schnurstracks bergab und zurück zu jenem Morgen, an dem wir aufbrachen, jenem schönen hellen Morgen im elften Jahrhundert, an dem wir offensichtlich noch sehr jung waren.“

 

Der Pilgerweg, auf dem es nicht nur zur „Verflüssigung“ der Zeit, sondern auch des Geistes kommt und auf dem die Reise Schritt für Schritt im eigenen Inneren mittels Sprache und Vorstellungskraft vollzogen wird, wächst mehr und mehr zum Bild des Lebensweges an. Im Geist gebildete Brücken und Gedankenbilder finden Verortung in einer einzigartigen Poesie, die selbst große Erweckung wird. Dennoch sieht das erzählende Ich sich selbst nicht  in einem Zusammenhang mit der Schriftstellerin Anne Carson, die das Buch verfasst, wenn es an einer Stelle heißt: „… ich bin schließlich Pilgerin, keine Schriftstellerin, und die einzige Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist der Weg selbst.“

Niemand könne einen Roman über einen Weg schreiben, so wenig wie man eine Geschichte über Gott verfassen könne – „ganz einfach, weil du nicht drum herum und dahinter gelangst“, wird weiters enigmatisch gesagt. Dass Anne Carson dennoch genau das gelingt, wenn sie ihre aus dem Atem der Pilgernden kommenden Sätze schreibt, hat betörende Kraft. Nach tagelangen Fußmärschen über das flache Land und die Täler werden nun auch die Berge erreicht. „Wir haben die Berge von Léon überquert“, heißt es dann. „Es dauert einen ganzen Tag, von Licht zu Licht“ (…) Und dann der Blick zurück ins Tal: „Irgendwo dort unten waren wir Hitze“.

Der Geliebte geht mit der Pilgerin, ist Herz-Begleiter und Störenfried, löst gleichermaßen Begehren wie Widerstand  aus. An ihm entlädt sich auch das eigene Sprechen, das an die Meditationsweise von Freiheits- und Liebesmystikerinnen erinnert, wie etwa an die Ritterromane liebende Teresa von Ávila und die von Anne Carson so geschätzte Marguerite Porete, die auch Meister Eckhart auf seinem inneren Weg inspiriert haben soll.

Neben den schelmisch-sehnsüchtigen Umkreisungen über ein wanderndes Paar in Nordamerika, das zwar im Außen gemeinsam unterwegs ist, aber weder zu erfüllendem Begehren noch wahren Verstehen findet, ist besonders der letzte Text über das Schwimmen zutiefst bewegend. Darin schreibt Anne Carson über ihren frühverstorbenen Bruder, einer Art kanadischem Arthur Rimbaud, der früh von zu Hause fortging und ohne Geld durch Europa reiste und auch nach China und in die arabischen Länder aufbrechen wollte. Wo er wirklich war und warum er schließlich jung an Jahren in Kopenhagen starb, das weiß Anne Carson nicht. Aber wie kurz sein Leben auch war, es hat ihres unwiderruflich beschriftet. Einmal habe er ihr einen Quarzstein geschenkt und erklärt, das darin eingeschlossene Wasser sei älter als alle Meere der Welt. Er hielt ihn ihr ans Ohr und sagte: „Horch. Leben und kein Entrinnen.“ Dass er sich mehr dem Tod als dem Leben anvertrauen konnte und so dem ganzen Strom des Meeres zu entrinnen hoffte, scheint Anne Carson nachhaltig geprägt zu haben. Aus der Erinnerung an ihn ist eine Art ewige Gegenwart geworden, das Bewusstsein eines Menschen, der um die Endlichkeit der Dinge weiß und deshalb zu Sätzen wie diesen kommt: „Leben und kein Entrinnen. Ich erinnere mich, wie wir am See saßen, die Sonne ging unter, am Horizont hingen Wolken aufgereiht wie Feuerlöschboote.“

Anne Carson schreibt diese Sätze ohne irgendeine Schwere, sie die „Licht (sind) gegen die Furcht“, der ihr Bruder erlegen war. Ihr ganzes Werk, besonders aber dieses Buch ist ein stetiges Unterwegssein zur inneren Sonne, das Aufbrechen einer Frage in die Antwort, „wie Wasser in Durst“, so heißt es einmal. Aber Vorsicht, Licht schmerzt und fordert eine unverwechselbare eigene Sprache. „Komm nicht zurück, wie du gegangen bist“, hält sie fest. „Nimm einen neuen Weg“. Dafür muss man Türen finden, die niemand verschließen kann. Das Wasser kann helfen, aber es ist tief (in uns) und hinzu voller Rätsel. Ganz nebenbei erzählt Anne Carson übrigens auch, warum es viel leichter ist, sich in Indiana zu verirren als ein Pilger zu sein, der einem Sieb gleicht, das ohnehin nichts festhalten kann.

 

Anne Carson, Anthropologie des Wassers. Aus dem amerikanischen Englisch u. mit einem Nachwort von Marie Luise Knott, 130 Seiten, 19.90 Euro, Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2014

 

ORF, 2014