Anne Sexton, Ein Leben hinter der Nacht - Marica Bodrožić
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Anne Sexton, Ein Leben hinter der Nacht

Marica Bodrožić

Ein Leben gibt es, irgendwo, hinter der Nacht.

Über die amerikanische Lyrikerin Anne Sexton

 

„Ich zeige dir die Bilder, die ich weiß./ Lieg still neben mir und schau zu“, heißt es in Anne Sextons Gedicht „The Fortress“ (Die Festung). Die Stille ist notwendig, lebensrettend, in ihr wohnen Geschichten. Sie bewegen sich wie Betrunkene nach ausgiebigem allnächtlichen Wodka-Konsum: statisch, langsam, betäubt.

Anne Sexton wurde 1928 in Newton, Massachusetts geboren und starb 1974 durch eigene Hand. Sie zog es vor, von sich als dem „story-teller“, der Geschichtenerzählerin zu sprechen – Geschichtenerzähler halten die Welt stets für einen Augenblick an, schauen auf das bloßgelegte Menschen-Tableau. „Genauigkeit und Kürze – das sind die ersten Eigenschaften der Prosa“, heißt es einmal bei Aleksandr Puschkin. Anne Sextons Gedichte erzählen, sie vermögen es, im konkreten, im genauen Raum der Literatur zu bestehen und schaffen es gleichzeitig, mit derselben Ungezügeltheit, sich in mythisch-archaischen Bildern der eigenen Geschichte zu bewegen; die einzelnen Lebensstücke im elegischen Sprechen einzulagern, ohne jemals ins Mitleiderheischende abzugleiten. Das Gedicht „The Fortress“ trägt den Untertitel „Während eines Mittagsschlafs mit Linda“, mit Linda, ihrer ältesten Tochter, zu der sie eine besondere, zuweilen zerstörerische Beziehung hatte und der sie ihren Nachlaß noch zu Lebzeiten überantwortete.

„… das braune Muttermal/“, heißt es weiter im Gedicht, „unter deinem linken Auge, dir vererbt/ von meiner rechten Wange: eine Gefahrenstelle,/ wo ein behexter Wurm sich durch unsere Seele fraß (…)“.

Wie einen Ritualgegenstand vererbt die Mutter den „behexten Wurm“ an das Kind; ein heiliges Stück Leben und ein nicht minder heiliges, erlösendes Stück Sterben. Der Wurm kriecht weiter, zieht magisch-mythische Kreise im Gesicht der Tochter, bohrt sich in Knochen, Blicke, Wangen, Augen, in den ganzen Körper vergräbt er sich und gibt vor, „Schönheit“ zu sein. In einem Brief richtet Anne Sexton vermächtnishaft die folgenden Worte an die Tochter: „Du bist meine Verlängerung. Du bist mein Gebet. Du bist mein Glaube an Gott. Im Guten oder im Bösen wirst du mich beerben.“ – Leichtigkeit ist ihre Stärke nicht.

Das Verhängis wacht allzeit über der sturzfrohen, einsatzbereiten Tragödie, einem endlosen, nimmermüden Trauerspiel von Worten, Schlägen (und Selbstschlägen), Tränen, Selbstmordversuchen, Kindheitsängsten, Schreck-ensspielen, Klinikaufenthalten und Tranquilizern. So klingen die Gedichte Anne Sextons wie von einer Axt in Holz geschlagen, in Stahl gegossen. Schwermut ist noch ein zu schönes Wort. Versucht man ihr Leben im Begriff des „Schmerzes“ zu fassen, gerät man auf Glatteis: der Schmerz trägt viele Namen.

Nach der sehnlichst erwarteten Geburt des ersten Kindes, kommt es bei Anne Sexton zu tiefen Depressionen, denen ein psychotischer Schub und mehrere Klinikaufenthalte folgen. Die Kluft zwischen der Vorstellung vom Mutterglück und dem, was Anne Sexton nun tatsächlich erlebt, ist zu groß; Angst, Unwissen, Unsicherheit bestimmen den Alltag. In den psychiatrischen Sitzungen bei Dr. Martin Orne fällt sie regelmäßig in Trance: ein geschickter Schachzug des Unbewußten, um sie vor den Bildern und Erkenntnissen dieser therapeutischen Begegnungen zu bewahren. Aber Dr. Orne fällt etwas ein, um seine Patientin an die gemeinsamen Stunden zu erinnern: Tonbänder, auf denen er ihre Gespräche aufzeichnet und die er ihr teilweise aushändigt.

Ihre Art, Gefühle, tiefe Bilder und wichtige Begebenheiten des Lebens zu beschreiben, ist poetisch und von großer Kraft, und Dr. Orne rät ihr, alles, was sie beschäftigt und sich ihr aufdrängt, aufzuschreiben. Später einmal sagte Anne Sexton, die Dichtung habe sie damals an der Hand genommen und sie aus dem Wahnsinn geführt. Aber sie hatte schon früher Gedichte geschrieben und damit aufgehört, nachdem ihre Mutter, die selbst dichtete, ihr vorgeworfen hatte, es seien Plagiate.

Zum Bindeglied zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit wird für Anne Sexton sehr bald die Lyrik, während „alles andere lügenhafte Masken“ darstelle. Ein Hinweis darauf, daß es stets eine Maske in ihrem Leben gab? Gibt es denn ehrliche Masken? Einmal sagte sie, Gedichte und nur Gedichte hätten ihr das Leben gerettet. Einstweilen. Dann haben auch sie es nicht geschafft. Aber Worte sind dafür da, um eingelöst zu werden, früher oder später. Bei Hemingway heißt es: „Der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“ Hemingway hat aufgegeben. Dennoch: vielleicht löst ein anderer seine Worte einmal ein.

Anne Sexton nimmt ab 1958 an dem vom Dichter John Holmes geleiteten Lyrikseminar in Boston teil. In diesem Workshop schreibt sie ihre ersten Gedichte, und hier kommt es auch zu der Begegnung mit George Staruck, Maxime Kumin und Sylvia Plath. Was als therapeutisches Flickwerk begonnen hatte, entwickelte sich fortan zur rettungversprechenden Berufung. Anne Sexton veröffentlicht unerwartet schnell in diversen Literaturzeitschriften ihre Arbeiten. Bis zu ihrem Tod 1974 erscheinen neun Gedichtbände. 1967 erhält sie den Pulitzerpreis.

Der Erfolg im Außen veränderte jedoch nicht die inneren Nöte, Bedrängnisse und Reibungen, führte nicht zu einer Auflösung der manischen Depression und der dissoziativen Erinnerungsverluste, oder zur Wende ihrer Agoraphobie, der Angst, allein über freie Plätze oder in Geschäfte zu gehen, um sich einen Lippenstift, ein Sandwich oder sonst irgendetwas Alltägliches zu kaufen.

Die Streitigkeiten in ihrer Ehe nehmen in dieser Zeit immer mehr zu, und je mehr Anne Sexton in den Bostoner literarischen Kreisen verkehrt und je mehr Anerkennung sie erfährt, desto größer wird der Graben zwischen ihr und ihrem Mann, für den die Gedichte in erster Linie eine weitere Bedrohung darstellen, da sie ihm noch mehr von der Frau stehlen, die er immer weniger versteht, und die sich noch weiter von dem wegbewegt, was er mit „Prinzessin Anne“ zu fassen versucht hatte. Einmal schrieb sie ihm von einer Reise aus Europa, sie wolle nicht die Königin und Prinzessin sein, lieber sei es ihr, sie wäre die „Freundin“, in die er sich verliebt habe. Aber in ihrer Beziehung gibt es keine Gefaßtheit mehr, keine Seelen- oder Gemütsruhe, keine Gelassen- und Gediegenheit. An diese Familie denkend fällt einem das Wort Martin Walsers ein: „Keiner hat genug gelebt, jeder zuviel“. Mittelpunkt dieses Lebens ist Anne Sexton, sie bestimmt die Pulsschnelligkeit, den Rhythmus. Eine Herzjagd folgt der anderen.

Die Suche (und stellvertretend für sie die Worte) hat ihr das Glück im Hier und Jetzt nicht geben können. „Mercy Street“ (ihr autobiographisches Stück, das 1969 aufgeführt wurde), Mercy Street, das ist der Name für eine lebenslange, qualvolle Suche nach einem vertrauten Ort, ein Streben nach etwas, das einem Zuhause ähnlich ist, oder, wenigstens, dessen Namen trägt. Diese innere Jagd nach dem erträumten und im gleichnamigen Gedicht festgehaltenen Glück hat sie so beschrieben: „In dem Traum/ der in mir bohrt/ bis ins innerste Mark,/ meinem wirklichen Traum,/ geh ich in Beacon Hill hin und her,/ suche nach einem Straßenschild -/ nämlich MERCY STREET./ Nicht da.“

Das „Nicht da“ hallt in die Leere eines einsamen Kopfes hinein. Und findet keinen Widerhall. Keinen Ort, der es aufnimmt und an dem es sich verankern, wenigstens im „Nicht da“, für kurze Augenblicke, sein kann. Es ist etwas Unheimliches in diesen knappen stählernen Worten, die sich wie die erste hastige Beschreibung eines verschwundenen Kometen im Universum anhört, ein Abtauchen in unbekannte, unerforschte Gegenden, namenlos, schwarz, lochschwarz. Es ist dem „Aufblenden“ (ein Begriff, den ihre beiden Töchter prägten) ähnlich, das sich vor einem Anfall in der immer gleichen Form zeigte, wenn ihr Kopf anfing, sich mechanisch hin und her zu bewegen.

Das „Nicht da“ ist schon sehr lange einsam und eben deshalb kategorisch. Die Erfahrung des „Nicht“ wiegt schwer, die Stille, die keine ist, scheint verläßlich, raumschaffend, jedenfalls nicht fremd, so, wie ein „Ich bin da“ es wäre, das einer Brücke bedarf, einen ruhigen Körper voraussetzt, Beine, die einen leichten Gang bestreiten. Normalität beschwören. Aber es gibt keine Normalität bei Anne Sexton, nie. Niedergang ist in allem der Maßstab. Anne Sextons Stille ist trügerisch. In ihr gibt es keine Ruhe und Entspannung. In ihr herrschen Stimmen, viele Stimmen, und sie bringen Unheil. So umgeht auch das lyrische Ich die erlösende Stille. Im „Nicht da“ sind ihm die Stimmen schon nahegerückt, haben es an sich gerissen. Auf leichten Füßen kommt nichts, es sei denn, es ist das tote Glück, das „Nicht da“, das immerwiederkehrend ist, ein sicheres Haus, ein Un-Haus. Ihrem mythischen Wunsch- und Seinsort, „Mercy-Street“,  kehrt sie jedoch im selben Gedicht in Wut und Verzweiflung den Rücken. Der Ort wird der eigenen Erbärmlichkeit gewahr. Sie schreibt: „Dann reiß ich mir den Traum vom Leib/ und prall an die Betonmauer/ des blöden Kalenders,/ in dem ich wohne, / mein Leben/ und seine Ausbeute:/ Schreibhefte.“

Die „Schreibhefte“ sind ihre Gedichte, in die die raunende Vielstimmigkeit ihres gepeinigten Ichs hineinfließt und die ihr hilft, aus dem greifbaren Ich herauszugehen. „Böse Engel“ und „grüne Hexen“ zischen aus Anne Sextons Zeilen wie klarsichtige Boten der endgültigen Unrast hervor, wie Gestalten der „Unwirklichkeit“ – und doch versprechen sie ihr, der Lyrikerin, Rast und Wirklichkeit, sind und wohnen in ihr.

Ein Leben gibt es, irgendwo, hinter der Nacht. Es kämpft und schreit und würgt und schlägt um sich. Und meistens trifft es sich selbst. So versuchte Anne Sexton unzählige Male, sich das Leben zu nehmen, bis es ihr dann eines Tages tatsächlich gelang. Sie war eifersüchtig auf Sylvia Plath, die einen „reklameträchtigen“ Selbstmord begangen hatte und effektiver  gestorben war. Zu ihrem Therapeuten sagte sie, Plath habe ihr „etwas genommen, daß mein war – dieser Tod war mein.“ In einem Brief an Ted Hughes schrieb sie, nicht das Leben, sondern den Tod der Plath habe sie gut gekannt.

Anne Sextons Schönheit war nicht nur „dramatisch“, sie war zerstörerisch, ein Krater, der sich jeden Tag zwischen Ich und Ich stellte, ein Abgrund, der keinen, keinen einzigen schroffen Felsen als Halt anzubieten hatte, und der von Beginn an ein sicherer Abgrund war. Mehr Nicht-Ich als jemals Ich gewesen ist. Ihre Wahnvorstelllungen waren so stark, bemerkt ihre Tochter, „daß sie die Tapete von der Wand reißen wollte, aus der die Stimmen sprachen, jedoch gelähmt war vor Angst.“ Ich ist ein Anderer ist hier der Garant für eine erhöhte Lebensgefahr.

Einmal notiert Anne Sexton: „Was man schreibt, ist besser als das, was man ist.“ Weil man im Schreiben wirklicher, greifbarer ist, und dahinter verbirgt sich eine gewisse Reinheit des Seins, ganz gleich (und gerade deshalb) wie blutverschmiert, dreckig oder roh die Bilder sind, die sich dem Dichter zeigen. Anne Sexton fiel nicht nur während der psychiatrischen Sitzungen in Trance, auch beim Schreiben beobachtete ihre Tocher den gleichen Ausdruck in den Augen, sah das beunruhigende Zwirbeln des hastig agierenden Fingers im Haar. Die Trance brachte sie zu sich zurück. Und das ist allemal beruhigender als die Namenlosigkeit, auch wenn Sprache und Worte an den Bildern nichts zu ändern vermögen – das vermag selbst Sprache nicht -, sie machen sie aushaltbarer. Man kann sie anschauen. Trotz allem. Und Literatur ist für Anne Sexton greifbar, ein Ankerplatz und eine Anlegebrücke, die sie sich selbst spüren lassen. „Nur in dieser komischen Trance“, schreibt sie, „kann ich mir selbst glauben, oder mein Gefühl fühlen“.

Die Messerschärfe in ihren Gedichten verdankt sich nicht nur der Muße, an die sie nicht glaubte, wenn es um die Arbeit an Gedichten ging. „Unter jedem Wort stehen zehn, die nicht hätten gesagt werden müssen“, heißt es einmal bei ihr. In ihrer Lyrik hielt sie sich strikt daran, und das Zwanghafte verhalf ihr in diesem Zusammenhang zur Weitsicht, war „Fenster zur Welt“.

In dem Gedicht „The Ambition Bird“ heißt es: „Die Sache mit den Wörtern hält mich wach./ Ich trinke Kakao,/ diese warme braune Mama./ Ein einfaches Leben wäre mir recht,/ und dennoch leg ich die ganze Nacht/ Gedichte in eine lange Kiste./ Das ist meine Kiste für die Ewigkeit,/ mein Ablage-Plan,/ mein Sarg.“ Am Schluß ihres Lebens halfen die Wörter nicht. Sie trank Unmengen von Alkohol und betäubte ihre Einsamkeit mit aller nur erdenklichen Heftigkeit. Schließlich zog sie, ein Glas Wodka in der Hand, den Pelzmantel ihrer Mutter an, und setzte sich in ihr Auto, verschloß die Garagentür und nahm sich bei laufendem Motor das Leben. Der Malstrom des Todes und die Talfahrt in seine Schwärze hatten zeitlebens Anne Sextons Existenz bestimmt. Sie haben direkter gewirkt, als man es sich vorstellen kann – man kann es sich nicht vorstellen. Ein Ruhepol war ihre ganz und gar beunruhigende Lyrik, und ihre Bekenntnishaftigkeit hat der Dichterin und der Frau Anne Sexton Leben gespendet. Für Augenblicke jedenfalls. Und daß sie einmal schrieb, Selbstmord sei schließlich das Gegenteil des Gedichts, hatte etwas mit diesen raren Augenblicken zu tun.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur

 

Anne Sextons Werkausgabe in vier Bänden:

Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz, Hrsg. von Elisabeth Bronfen, S. Fischer Verlag

 

– Liebesgedichte/ Verwandlungen. Werke Band 1, 1995, Seiten 335

– Alle meine Lieben/ Lebe oder stirb. Werke Band 2, 1996, Seiten 375

– Selbstporträt in Briefen. Werke Band 3, 1997, Seiten 463

– Das ehrfürchtige Rudern hin zu Gott. Werke Band 4, 1998, Seiten  364

 

Mit einem Hinweis auf:

Linda Gray-Sexton, Auf der Suche nach meiner Mutter, Anne Sexton, S.Fischer Verlag, Frankfurt 1997, 358 Seiten

Diane Middlebrook, Zwischen Therapie und Tod. Das Leben der Dicherin Anne Sexton, Arche Verlag, Zürich 1993, 603 Seiten,

Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, DTV, München 1996, 646 Seiten

 

Text von 1998, erschienen in der Basler Zeitung, Redaktion Aurel Schmidt