Barbara Honigmann, Der neue Mensch in einer neuen Zeit - Marica Bodrožić
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Barbara Honigmann, Der neue Mensch in einer neuen Zeit

Marica Bodrožić

Der neue Mensch in einer neuen Zeit

 

Was Kinder über ihre Eltern wissen können, erzählen immer nur die Schnittmengen der im Zusammenleben verbuchten einschneidenden Erlebnisse. Aber auch diese werden, das liegt in der Natur des menschlichen Gedächtnisses, oft jeweils anders erinnert. Ein Gedächtnisstrang kann den anderen ablösen und so auch Widersprüche offenlegen, die später für den Zurückblickenden als Erinnerungen aus der Zukunft neue Fragen aufwerfen. Die aus der Rückschau sich regelrecht vervielfältigenden Gesichter des eigenen Vaters etwa zeigen sich dabei als eines der beharrlichsten Geheimnisse unserer Existenz. Die Berliner Schriftstellerin Gisela von Wysocki hat zuletzt in ihrem berauschend schönen Buch „Wir machen Musik“ einen solchen Vater beschrieben, der, eine Koinzidenz, die wohl der Zeit und ihren Filtern geschuldet ist, genauso wie Barbara Honigmanns Vater Georg hieß. Honigmanns Vater ist zudem so vielschichtig und so oft in dreißigjährige Frauen verliebt wie das 20. Jahrhundert grausam ist, das ihn zum Kind seiner Zeit macht und auf Wege und Umwege bringt, die er vorher nicht absehen konnte. Die Schrecknisse des Jahrhunderts gehen stets in Georgs Leben mit und bilden das tragische Hintergrundrauschen seiner Existenz, während die schicksalhaften Frauen ihn immer geradewegs in eine neue, vielversprechende Spur des Seins bringen. Das mag auf den ersten Blick nach einem nachahmenswert wilden Leben aussehen, in Wirklichkeit hat es etwas Rastloses und bewegend Trauriges an sich, wenn schließlich die Leserin erfährt, dass Georgs Mutter im Alter von vierundreißig Jahren verstorben ist und er selbst, Jahrgang 1903, zu diesem Zeitpunkt gerade mal elf Jahre alt war. Sind die Liebesgeschichten und Ehen vorbei, geht auch alles andere für Georg vorbei, denn er verfügte nicht über einen eigenen Freundeskreis und nach jeder Trennung begann etwas grundlegend Neues für ihn. Und jedes Mal, wenn seine Existenz eine neue Wende nahm, wurde ihm seine jüdische Herkunft als ein ambivalentes, stets mitschwingendes Erbe sichtbar, dem er das „Zwischen-den-Stühlen-Sitzen“ verdankte, wie es einmal heißt. Diesem Dazwischensein und Dazwischenleben verdankt sich auch seine besondere Vitalität, die fortwährende Bereitschaft des Neubeginnens. Dem Jahrhundert der Barbaren entkommt er am Ende durch eine spontane Lüge, behauptet, dass er Englisch kann, obwohl das nicht einmal ansatzweise der Fall ist – und wird als Korrespondent nach London geschickt, was sich bald darauf als seine Rettung vor Hitlers Schergen erweist. Aber die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges bändigen auch seine Kraft. Mit siebzig Jahren lebt er schließlich nach unendlich vielen Lebensstationen in der ostdeutschen Provinz, ist Kommunist und Parteimitglied, aber einer, der, wie er es selbst immer wieder zur Tochter sagt, nie über Hermann Hesse hinausgekommen ist. Am Ende seines Lebens habe er nur seine Bata-Wanderschuhe zu seinem einzigen Besitz gezählt, er habe viel Zeit gehabt und sei nie krank gewesen, schreibt Barbara Honigmann. Aber jahrelang scheint er doch an einer Angina pectoris, der sprichwörtlichen „Enge des Herzens“ gelitten zu haben, auf die seine Tochter Barbara Honigmann immer wieder zu sprechen kommt. „Was alles geschehen war seit dem Tod seiner Mutter und dem Tod seines Bruders an irgendeiner französischen Front des Ersten Weltkriegs, seit der Odenwaldschule, der Vossischen Zeitung und der Rue de Lappe, er hätte die Jahre in London, den Krieg, den ‚Blitz‘ und die Internierung in Kanada, den Weg aus seiner bildungsbürgerlichen Herkunft zum Kommunisten beschreiben und bedenken können. Aber er tat es nicht.“ An seiner statt nimmt nun die Tochter diese Aufgabe auf sich und erzählt sein Leben in wiederkehrenden Spiralen. Immer wieder kommt Barbara Honigmann auf wichtige persönliche Begebenheiten zurück und lässt sie, einen anderen Anfang nehmend, so sprechen, dass dabei eine Art Umkreisungsgang durch die eigene Erinnerung entsteht, vehement manchmal aufgrund der Dinge, die der Vater getan oder auch nicht getan hat. Dabei ist sie nie aburteilend, sondern frei, klar und mit einer für Honigmann typischen Grundfreundlichkeit ausgestattet, die sich am besten mit der Ruhe umschreiben lässt, mit der sie erzählt. Das Freundliche ist dabei, wie immer bei Barbara Honigmann, Genauigkeit, nie Sentimentalität oder Verklärung, so, wie es ihre Leser beispielsweise auch aus „Chronik meiner Straße“ kennen, einem ihrer letzten Bücher, das zu den schönsten und eigensinnigsten des letzten Jahrzehnts gezählt werden kann. Darin erzählt sie von ihrem Leben in Frankreich in ihrer Straße, in der sie seit 1984, dem Jahr ihrer Ausreise aus der DDR, bis heute lebt. Das Jahr ihrer Befreiung und des Aufbruchs ins Neue ist, so hat es die Mathematik des Schicksals gewollt, ausgerechnet das Jahr, in dem ihr Vater stirbt.

Nicht nur das eigene Erinnern spielt in diesem Vaterbuch eine große Rolle, auch die Geschichte eines Menschen, der fast zufällig, wieder einmal der Liebe wegen, zum Kommunisten wird, hat hier eine lebensbestimmende Bedeutung. Nach den nationalsozialistischen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und dem Glück des Überlebenden, lässt es sich plötzlich genau nachvollziehen, warum Georg sich „die neuen Menschen in einer neuen Zeit“ im Kommunismus als freie und ebenbürtige Wesen vorstellt, die weder durch Herkunft noch durch Besitz oder irgendetwas anderes besser oder schlechter gestellt sind. Die Gleichheit aber, von der er träumte, wurde indessen in der DDR schnell zur inszenierten Farce, denn die Menschen werden, das bekommt er als Journalist durchaus am eigenen Leib mit, Jahr für Jahr immer zielgerichteter kontrolliert, reglementiert und überwacht – ein sicherlich für ihn erschreckendes Momentum, da er selbst von England aus für die Sowjetunion spioniert hatte, obwohl er von den Engländern, das betont Barbara Honigmann, durchweg gut behandelt wurde. Georg selbst scheint von seiner letzten Frau, wieder einer Dreißigjährigen, im Auftrag der Stasi bespitzelt worden zu sein. Barbara Honigmann weiß selbst nicht, ob ihr Vater darüber Bescheid gewusst hat. In jedem Fall schließt sich ein gewissensmathematischer Kreis hier für einen Menschen, der selbst als Spion tätig war. Es ist ein tragischer Augenblick, der uns wieder einen „zwischen-den-Stühlen“ sitzenden Mann zeigt, weil er nie zur ganz großen Klarheit in seinem Leben vorstoßen konnte und am Ende dann doch voller Selbstverachtung das tat, was die Partei ihm vorschrieb. In Briefen berichtet er seiner Tochter auf bewegende Weise darüber und äußert seine Wut über diese psychisch-politische Schachmatt-Situation, aus der es keinen Ausweg für ihn gibt. Das Entwurzeltsein als Jude, der Zweite Weltkrieg, der einen so starken Bruch in seinem Leben eingeleitet hatte, scheint, wie bei vielen Juden, die sich andernorts retten konnten, als eine Art Starre immer in ihm mitgegangen zu sein, der er nur entkommen konnte, wenn er sich in der Liebe neu erfinden durfte. Aber während er immer älter wird, fällt die Wahl seiner Frauen weiterhin auf Dreißigjährige, und so wird ihm nie wirklich etwas Bleibendes innerhalb familiärer Strukturen zuteil. Nur seine Tochter bleibt ihm beständig erhalten, die er nach seiner geliebten hessischen Großmutter benannt hat und die sich nach dem Tod der Mutter offenbar ganz anrührend um ihr „goldisch Bubbsche“ gekümmert hat. Ganz nebenbei gelingt Barbara Honigmann in diesen hinreißenden Passagen eine liebenswerte und einzigartige Liebeserklärung an den hessischen Dialekt. Das Zeitalter des Friedens, nach dem ihr Vater sich gesehnt hat, ließ indes in der DDR auf sich warten. In Georgs aufmerksam durch die Lande, Redaktionen und Theater mitgehendem Kind, das 1949 in Ost-Berlin zur Welt kam, hat sich das abgespeicherte Leben in Sprache verwandelt, es ist in der Innenwelt hellwach und unbestechlich geblieben und erzählt uns hier in diesem dezenten Buch von den Möglichkeiten, Visionen und Erschütterungen eines Lebens, an dem nichts vollkommen, aber alles bewegend war, gerade weil seine Unvollkommenheit davon zeugt, wie schwer es ist, die eigene Redlichkeit in Handlung zu übersetzen. Dennoch gibt es viele kleine Augenblicke, in denen dieser Vater leuchtet, zum Beispiel im englischen Exil – wenn er sich weigert, seinen deutschen Namen Georg durch ein angefügtes „e“ verschwinden und im angelsächsischen George münden zu lassen. Er besteht mit dieser kleinen Entscheidung darauf, dass er Jude und Deutscher ist. Goethes Unterhaltungen mit Kanzler Müller liest er seiner Tochter immer wieder vor, in denen es heißt: „Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfe, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen der Vergangenheit gestaltet, und die echte Sehnsucht muss stets produktiv sein, ein neues, besseres Ich in uns zu erzeugen.“ Sein eigenes Handeln scheint diesen Zeilen stellenweise deutlich zu widersprechen, aber dass er sie sich immer wieder zu Gemüte geführt hat, zeugt von seinem vitalen Unterwegssein und von seiner gedanklichen Reise zu den Tiefen der menschlichen Existenz. Er selbst hat dazu nie etwas geschrieben, obwohl sein Beruf als Journalist das nahegelegt hat. Vielleicht hat er es vorgezogen, im Schweigen zu verschwinden und nichts mehr zurechtzubiegen und aufzulösen, was das Leben in ihm verknotet hat.

 

Barbara Honigmann, Georg. Hanser Verlag, München 2019, 157 Seiten

 

Text von 2019