01 Mai Hilde Domin, Lass uns Wolkenhirten sein
Marica Bodrožić
Lass uns wieder Wolkenhirten sein. Über Hilde Domin
„Meine Wörter sind Vögel mit Wurzeln“, heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin. Leicht wie ein Vogel musste auch sie früh in ihrem Leben werden, allerdings war sie eine unfreiwillig mit leichtem Gepäck Reisende, eine Frau mit einer Biographie wie sie kaum exemplarischer für das 20. Jahrhundert sein könnte. Das Exil lehrte Hilde Domin, dass es kein irdisches Bleiben geben kann. Dennoch ist sie mit ihren Gedichten bei uns geblieben, mit jener Art Hinterlassenschaft also, die sich über den Tod stellt. Dichter, das weiß jedes Kind, bleiben durch ihre Worte und mit ihren Worten am Leben. Ganz besonders gilt das für jene Lyriker, die sich jenseits der zeitgenössischen Mode auf ihre eigene Sprache berufen. Hilde Domin, Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts und geborene Löwenstein, war eine solche Dichterin. Sie hat aus den Tiefen ihrer Persönlichkeit geschöpft und Krisen schreibend überstanden, ohne dabei falsch stilisierten Selbstmitleid zu verfallen. Die Kraft konnte sie nach eigener Aussage dafür aufbringen, weil sie als Kind emotionale Heimat erfahren habe. Über ihre Herkunft hat sie einmal geschrieben, irgendwann sei sie zuhause und auch gut zuhause gewesen. Davon habe sie ein Leben lang gelebt: „Das war in Köln“, so Domin, „ … in der Riehler Strasse. Dort haben mich meine Eltern mit dem Vertrauen versorgt, dem Urvertrauen, das unzerstörbar scheint und aus dem ich die Kraft des Dennoch nehme.“ Es ging Hilde Domin in ihren Gedichten nicht um politisches Engagement, obwohl sie vor dem Hintergrund ihres bewegten Lebens gewiss auch darin überzeugend gewesen wäre. Vielmehr galt ihr das Persönliche, die ureigene Erfahrung, als kostbar, und in ihr drückte sie auch automatisch auf eine nachhaltig glaubwürdige Weise die Themen ihrer Zeit aus.
Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren. 1929, nach dem Abitur, studierte sie zunächst Jura, später Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Philosophie. Einer ihrer wichtigsten Lehrer war Karl Jaspers. 1932 begann sie zusammen mit dem Archäologiestudenten Erwin Walter Palm in Rom zu studieren. Politische Motive spielten auch in dieser konkreten Lebensphase keine übergeordnete Rolle. Doch nach Hitlers Machtergreifung verwandelte sich das selbstgewählte Fortgehen der beiden jungen Menschen in ein erzwungenes Exil. Im Jahre 1936 heiratete Hilde Domin ihren Lebensgefährten Erwin Walter Palm. Am 26. Juni 1940, am selben Tag wie Stefan Zweig, flohen sie über Kanada in die Dominikanische Republik. Dort war Hilde Palm zunächst die Assistentin ihres Mannes. Erwin Walter Palm arbeitete da schon als Archäologe und Kunsthistoriker. Hilde Domin übersetzte und tippte seine Arbeiten, dokumentierte seine Studien fotografisch und unterrichtete von 1948 bis 1952 Deutsch an der Universität von Santo Domingo. 1946 hatte sie mit ersten schriftstellerischen Tätigkeiten auf sich aufmerksam gemacht. Der zunehmend seelischen Vereinsamung trat sie mit ihrem Schreiben entgegen. 1954, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, veröffentlichte sie Gedichte unter dem Pseudonym Domin. Die Insel Santo Domingo, auf der ihre dichterische Laufbahn begann, verewigte sie auf diese Weise in ihrem Namen.
Zwei Bücher machen jetzt dankenswerterweise auf Leben und Werk Hilde Domins aufmerksam. Das eine trägt den Titel „Liebe im Exil. Briefe an Erwin Walter Palm aus den Jahren 1931 – 1959“. Sowohl das Glück dieser außergewöhnlichen Liebe als auch die karibische Einsamkeit, die darauf folgende Ehekrise und der Aufbruch ins eigene Schreiben sind hier dokumentiert. Oft war Domin allein und somit auf sich selbst auf der Insel Santo Domingo zurückgeworfen. Ihr Mann durfte über Jahre hinweg den lateinamerikanischen Kontinent in seiner beruflichen Funktion nicht bereisen. Die Sprache der Liebe umfasst in diesen Briefen nicht nur direkte Herzenserklärungen; Beschreibungen von Landschaften, inneren Bewusstseinsvorgängen, persönliche Sorgen und Sehnsüchte sind hier genauso enthalten wie etwa eine Bitte an ihren Mann, ihr mehr Raum zu lassen. Da heißt es an einer Stelle über ihre Mitarbeit an einem Buchprojekt: „Mein Herz, lass mir ein wenig mehr Freiheit: so dass Platz bleibt für die – und sei es nur eine Fiktion – freiwillige Mitarbeit. Der totale Druck, die totale Pflicht, das macht nur widerwillig. Man bekommt eine Lust zum davonlaufen – gar nicht zu beschreiben. Dabei lieb ich Dich doch.“ Und dann, ein paar Zeilen weiter, heißt es noch versöhnlicher: „Lass uns… lass uns doch wieder Wolkenhirten sein, wenn die Bäume grün werden…“ Hilde Domins Briefe lesen sich wie ein Liebesroman, den man sich gerne ausdenken würde, wenn das Leben selbst ihn nicht schon durch diese beiden Menschen geschrieben hätte. Hilde Domin zeigt in diesen Briefen, die zugleich auch Dokumente sind, ein menschliches, weiches, durchweg zärtliches Gesicht. Ihre Briefe zeugen von einem anteilnehmenden Geist, von einem Blick der Güte und des Mitgefühls, der auch ihren Gedichten eigen ist.
Das andere Buch heißt schlicht „Sämtliche Gedichte“ und enthält Hilde Domins gesammelte Lyrik. Der S. Fischer Verlag hat glücklicherweise auch die Gedichte aus dem Nachlass abgedruckt. Versehen ist dieser Band mit einem sehr aufschlussreichen Nachwort der Schriftstellerin Ruth Klüger, die u.a. auf Domins wichtige Themen wie Exil, Vertrauen, Gedächtnis und Erinnerung präzise und mit Textbeispielen eingeht. Hilde Domin trug bei ihren Lesungen ihre Gedichte immer zweimal vor. Sie las in Gefängnissen, Schulen und Kirchen. In einem Interview im Jahre 1986 wurde ihr die Frage gestellt, wie viel Mut ein Schriftsteller für das Schreiben eigentlich benötige. „Ein Schriftsteller“, sagte sie bei dieser Gelegenheit, „… braucht drei Arten von Mut. Den er selber zu sein. Den Mut, nichts umzulügen, die Dinge beim Namen zu nennen. Und drittens den, an die Anrufbarkeit der anderen zu glauben.“ Hilde Domin hat ihren eigenen Mut soweit in die Welt hinausgehalten, dass er noch heute trägt. Durch ihre trotz aller Schwere leuchtenden Texte ist sie zum selbstlosen Beispiel dieses Mutes geworden. Recht besehen hat sie uns damit gezeigt, dass dieser Mut nicht nur den Schriftstellern, sondern allen Menschen abverlangt werden sollte. Schon allein deshalb lohnt es sich, ihre Gedichte und Briefe zu lesen, deren Sprache noch heute eine ethische Stütze ist.
Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. S.Fischer Verlag, Frankfurt 2009, 351 Seiten
Hilde Domin: Die Liebe im Exil. Briefe an Erwin Walter Palm aus den Jahren 1931-1959. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2009, 380 Seiten
Text von 2009, ORF