Über das Gedicht "Geduld" von Denise Levertov - Marica Bodrožić
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Über das Gedicht „Geduld“ von Denise Levertov

Welche Geduld eine Landschaft hat, wie ein altes Pferd,

das den Kopf auf die Wiese senkt.

Graue Tage,

Luft und feiner Regen haften aneinander, werden eins, schweben

zuletzt träge, Regen löst sich aus der Umarmung und willigt ein

zu fallen. Welche Geduld ein Hügel, eine Ebene,

eine ruhige Waldlandschaft haben, und der langsame Fall

grauen Regens… Ist es blindes Vertrauen? Ist es

bloß ein Weg zur tiefsten Ruhe? Ist das Pferd

nur schicksalsergeben, oder hat es

ein wünschenswertes Wesen, eine eingefriedete Wiese

ganz anders als sein durchnässtes Feld,

wozu Geduld der Schlüssel ist? Hat es bereits,

in sich ruhend, diese sonnengewärmte Zuflucht betreten?

 

Aus dem Amerikanischen von Ingrid & Reinhard Harbaum

 

Denise Levertov ist eine Zauberin der Stille. Ihre Sätze sind selbst Natur, Teile einer Landschaft, Fußetappen der Seele, Wege einer inneren Welt, die in ihren Gedichten immer wieder aufflammen, in ihrer Sprache sich stillster Art entzünden, langsames Feuer, sachtester Gesang. Eine Keimung ist da drin, die dem Element Feuer eigentlich fremd ist. Aber in Levertovs Feuer ist die Erde zuhause, die Schritte, die Füße, der habtische Gang, der sich mit jedem einzelnen Weg in die Geographie eines florierenden Gedächtnisses einschreibt. Wir werden in dieser Sprache das Gehen und das Gedächtnis, wir trennen uns nicht mehr von der Welt. Wir werden mit dieser Sprache zur Welt, zum gesprochenen Weg. Das Gedicht „Geduld“ ist so etwas wie eine Anrufung dieser nur ihr so eigenen, spezifischen Stille. Fast ein Gebet, dass das nur flüchtig zu Erahnende wie eine vergängliche Wolkenlandschaft ins Gedicht bannt. Nur dieser Augenblick, dieses Sattwerden am Jetzt, nur das Hier der Beobachtung. Hinter ihrem Augenblick, dem Jetzt und dem Hier – ist ein wesenhaftes Auge versteckt. Es sieht immer nur von innen, sammelt Blicke ein von innen. Diese Schau hält die Welt im Betrachten an, weil ihr stets die Tiefe der Empfindung vorausgeht. Es ist immer ein zum Kern vordringendes Auge, obwohl es dem Äußeren nicht vertraut, es stellt ja sehend Fragen ans Unsichtbare. Die Eingebundenheit, die Einheit in der Betrachtung, sie kann nur immer in einem Fließen wahrgenommen werden. Danach erfolgt die Beschreibung, die zugleich das Sprengen der Zeit ist. In unseren geduldlosen Tagen ist ein Gedicht wie dieses Labsal, sonneversprechende Ruhe, fast eine Anleitung zum Beatmen der Worte. Denise Levertov kann die Welt durch ihre Beschreibung neu malen. Sie schaut mit einer Art doppeltem Auge, auf den Grund, wie sonst könnte sie auf den Gedanken kommen, dass eine Landschaft Geduld hat, „wie ein altes Pferd,/ das den Kopf auf die Wiese senkt.“  Selten haben Gedichte diese Auswirkung auf den Atem, nur im Heranreifen, beim Lesen von Nietzsches „Zarathustra“ möchte man die beschriebene Welt sofort mit dem eigenen Leben erfüllen und diese Welt werden. Nietzsches omnipotentes Wissen und selbst sein Zweifel sind ansteckend, akribisches Nachdenken über das eigene Menschsein erfolgen im Grunde als Aufforderung. Man führt eine Art spirituellen Befehl aus, Nietzsche will, dass wir mit ihm die Pferde küssen. Levertov ist anders, sie will gar nichts von ihrer Leserin, deswegen kann sie das Pferd küssen, ohne einen fremden Wunsch auszuführen, sie macht es von sich aus (er wird die Natur, die das Pferd auch ist). Levertovs Anteil ist die Schenkung: sie reicht an uns das Bild weiter. Und das Regelwerk des Bildes verströmt sich selbst, vollführt sich in uns, kraft unserer Empfindung. Die Frage, ob Natur in ihrer Absolutheit, in ihrer Erscheinungsform (als Hügel, als Ebene, als Wald) so vertrauen kann wie ein Mensch und dann auch noch blind, zeugt von einem  Blick, in dem das eigene Schauen der Natur zugehörig ist, ein Teil von ihr, das Gefährt vielleicht, die Räder, der volant, mit dem die Richtung uns selbst ins Visier nimmt. Die Schicksalsergebenheit des Pferdes, würde sie an uns heranreichen können, wir an sie, als Menschen? Was ist die tiefste Ruhe, von der Levertov spricht? Das Dasein an sich? Wir können nicht schlicht schicksalsergeben sein, wir haben ja bereits – beispielsweise – die Bücher von Nietzsche gelesen. Aber meint sie jene Art Ergebenheit, in der das Denken wegfällt, indem es in die Sprache als waffenloser Jäger einfällt? Ihre Kosmogonie der Stille umfasst das Fragen im ruhigen Zustand des Nichthandelns. Und dabei erfährt die Lyrikerin selbst die Welt als Bewegung. Eine eingefriedete Wiese ist das Bild dafür. Jemand muss die Wiese einfrieden. Aber wer? Ist das Nichts in uns plötzlich doch ein Handelnder, wenn wir es gewähren lassen? Die Geduld, wird gesagt, ist der Schlüssel zu dieser eingefriedeten Wiese, zu ihrer Art Botschaft. Die Welt scheint dort zu liegen. Die ganze Welt. Und bei geschlossenen Augen, im Nachwirken der Stille, bekomme ich das Gefühl, dort hingehen zu können, zu dieser Wiese zu gehen wie zu einem vertrauten Menschen, einem alten Verwandten, der mich besser kennt als alle anderen Menschen. Besser auch als ich mich selbst kenne. Was könnte ich dort tun? Die Stille sammeln? Vielleicht. Ein Kopftuch anziehen, mit einem Blumenmuster darauf, wie es die Frauen meiner Kindheit taten, wenn sie zur Ernte gingen und mit den Kartoffelpflanzen sprachen, sie ausschimpften, wenn sie zu klein geraten waren. Vielleicht wird man in Gedanken so schon ein dichtender Mensch, weil diese Art Dichtung ansteckend ist. Die „sonnengewärmte Zuflucht“ ist in jedem Menschen vorhanden. Es gibt überall Apfelbäume, Pferde und Hügel – in der Stadt sehen sie nur anders aus, sind bearbeitete Innennaturwelt, Korrespondenzen der vielfach überschriebenen Moderne. Sie haben sich verwandelt, sie tragen andere Namen. Das ist unsere Zeit, eine Zeit der Entschlüsselungen. Leverotovs Sprachvermächtnis kann sie im Ursprung freizaubern, freisetzen, wie versteckte Bilder, die lange Zeit in unter Verschluss gehalten worden sind und jetzt ein waches Auge brauchen, um wieder das zu werden, was sie einst gewesen sind: Landschaften, lebendige Zeichen, Lebensspuren im Auge eines Menschen. Ein Uhrwerk aus Erinnerung. Strand der Zeit.