Meine Luft der Wörter - Marica Bodrožić
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Meine Luft der Wörter

Marica Bodrožić

Die Luft der Wörter

Über Sprache und Identität

 

Wörter sind Archive des Lebens. Sich an die Wörter zu halten, an das Wort zu halten, ist immer auch eine Haltung zur Welt, ein Weltwerden, eine Schöpfung. In  den Wörtern, ja sogar im Semikolon – das die Sätze in einen Atemfluß, einen Atemzusammenhang bringt – wohnen Gedächtnisse. Der Mensch ist nichts ohne seine Erinnerung. Zum einen braucht er sie wie Brot, um sich selbst zu erkennen; zum anderen muß er hin und wieder auf sie verzichten und auch im Unwägbaren gehen. Die Sprache gibt ihm die Macht, sich und andere in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft  zu sehen. Die inneren Bilder sind dabei wie kleine Brückenübergänge an die Wörter gekoppelt.

Wo fängt der Fuß des Ichs an, wo die Fingerkuppe der Biographie? Wo enden sie? Welchen Weg auch immer wir einschlagen, wir kommen um unsere schöpferische Macht nicht herum. Diese wird uns zwar nicht in die Wiege, aber mit jedem neu erlernten Wort ins innere Gebiet und dann auch in die eigene Stimme gelegt.

Sprechen ist par excellance ein Werden. Sprache ist stets Bewegung. Sie kann gar nichts anderes sein. „Bewege Dich, so wirst du schön“, hat einmal der Schriftsteller Peter Altenberg geschrieben. Nur das, was wir zu sagen vermögend sind, macht uns aus, macht etwas in und mit uns zu einer Bewegung. Ein neuer Wind zieht in die Lunge ein, ein neuer Wolkenzipfel Seele, wenn wir auf die Wörter als Waffen verzichten. Und uns nur im Sein bewegen. Das Ich, die eigene Innerlichkeit sind aber auch nur Randdistrikte eines viel größeren Gebietes, dem alle Menschen angehören. Auch die Natur wohnt in diesem Menschengebiet, ist manchmal zuständig für die Stille und Würde der Wörter. Gleichsam wie in einem Wald wirkt auch in den Buchstaben eine Form von Natur, die sich ihre eigenen Farben und Farbnuancen ausdenkt. Und den Gebrauch der Wörter zu beschützen sucht. Ist das Ich hart wie Kernseife, kann es nur mit Wörtern schrubben, es kann nicht weich sein und verliert den Bezug zum Inneren.

Liebenden geschieht das bewusste Sein immer von selbst. Wenn man liebt, hat man keine Hand frei, um mit Steinen zu werfen, man braucht beide Hände, um aus dem Vollen zu schöpfen. Liebe erträgt man nicht, man lebt sie mit seinem ganzen Wesen und ist dem Anderen ebenbürtig, hat die gleichen Rechte, den gleichen Genuss, jedenfalls ist die Natur jeder wahren Begegnung so angelegt. Der Andere braucht nicht nur unseren Respekt, so erträgt man den Anderen nur. Es ist gegen die Würde des Menschen, daß man ihn nur erträgt. Jeder Mensch benötigt das Ganze, den offensten Blick, die größtmögliche Zuneigung. Ob als Individuen oder als Völker, Nationen, Länder wir brauchen eben die ganze Zärtlichkeit des Auges, die ganze Aufmerksamkeit: und diese wurzeln nur im Verstehen, im sprachlichen Zugehen auf den Anderen. Wie kann man auf einen anderen zugehen ohne sich selbst mitzunehmen? Das geht nicht. Das ist keine Bewegung.

Identität ist nichts anderes als die Fähigkeit, sich im eigenen Inneren erinnernd zu bewegen. Was vermag ein Wesen zu tun, im Leben, für sich, für Andere, wenn es keine Wörter zu Freunden hat?, wenn es nicht lesen kann, wenn es die eigenen Buchstabenflüsse, Wörtermoore und Satzseen nicht kennt? Was vermag ein Wesen dann eigentlich überhaupt? Was ist sein Sagen? Seine Welt? Seine Menschenwiese?

Flüsse, Moore, Seen sind weiche, wenngleich auch unwägbar tiefe Gebiete. Das eigene Gehen darin will geübt sein – und muß eben auch, wenn die Kieselsteine aufhören, ein gekonntes Schwimmen werden. Geben wir Anderen die Macht über unsere eigenen Sprach- und Lebensbewegungen, und beides gehört verfugt zusammen, sind wir vom Urgrund her gefährdet. Wir können nicht anders als unterzugehen. In Diktaturen ist dieses Phänomen bei jedem Schritt der Menschen in ihrem Alltag zu beobachten. So sie sich sprachlich der offiziellen Doktrin, und jede Sprachverordnung ist eine Doktrin, anheim gegeben haben, verlieren sie die Grundlage ihrer eigenen inneren Balance. Und dann hat das Ich keine eigene Luft, dann haben die Wörter keine eigene Luft, keine Ichluft, keine Herzluft, keine Seeluft, überhaupt keine Luft. Keinen Atem. Wir haben, so wir unachtsam mit dem Erbe und dem Archiv der Wörter umgegangen sind, alles abgegeben, was wir je hatten. Uns selbst haben wir dann abgegeben, weil wir ohne die Wörter niemand sind.

In der sichtbaren Welt haben wir nichts. Es sieht nur so aus als seien wir hier und dort Besitzer. Passbesitzer, Hausbesitzer, Adressenbesitzer. Wirkliches Haben bewegt sich aber nur in der unsichtbaren Welt, wird verwaltet auf einem unsichtbaren Sprachkonto, das seismographisch genau all unsere Bewegungen verzeichnet. Wir alle haben nur unsichtbare, nur unbeweisbare Köfferchen, Wörter, Winde, Wirkungen – wir können sie nur in uns, nur in der Sprache tragen. Selbst dann, wenn unsere Sprache die reine Stille wäre.

 

Text von 2007, publiziert vom Online-Magazin des Goethe-Instituts