Sabina Spielrein, Das Ende einer Fußnotenkarriere - Marica Bodrožić
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Sabina Spielrein, Das Ende einer Fußnotenkarriere

Marica Bodrožić  Das Ende einer Fußnotenkarriere

Über die zu Unrecht vergessene Psychoanalytikerin Sabina Spielrein

 

„Irgendwie habe ich Angst, den Menschen näher zu kommen“, schreibt einmal Sabina Spielrein während ihres Studiums in Zürich, Angst um ihre Freiheit, die das einzige sei, was sie besitze. Diese schützte sie nach eigener Aussage wie eine „Kostbarkeit“. Den kleinsten Übertritt empfand sie als einen Anschlag auf die eigene Persönlichkeit. Je mehr ein Mensch Einfluss auf sie habe, umso mehr könne er sie in Rage bringen, sogar mit freundlichen Belehrungen, formuliert sie einmal.

Ihre Beziehung zu C.G. Jung und Sigmund Freud ist bisher stets unter einem hoch hinausgehaltenem Begehrensaspekt verhandelt worden, man hat sie, erstaunlicherweise auch in Fachkreisen, lediglich als „Frau“ zwischen diesen beiden Männern gesehen, die offenbar auch gerne diese Rollen spielten, sich aber zugleich nie von ihrem genau definiertem Interesse als Wissenschaftler entfernten. In Wirklichkeit stand aber die 1885 geborene Sabina Spielrein nicht als Frau, sondern auch als Analytikerin zwischen ihnen, die mutig genug war, wenn auch mit Einbrüchen, ihren eigenen Abgründen radikal zu begegnen.

Sie war zunächst Jungs Gesundung suchende, aus Russland in die Psychiatrische Klinik „Burghölzli“ angereiste Patientin, dann wurde sie seine wissensdurstigste Schülerin und schließlich auch Geliebte. Vor allem aber etablierte sie sich nach ihrem Studium sehr schnell als eine ebenbürtige Kollegin, die mit großer Kraft die Selbstüberwindung anstrebte und schließlich in ihrer wissenschaftlichen Eigenständigkeit vornehmlich für C.G. Jung zur Bedrohung erwachsen war. Er schrieb Freud Briefe über seine „Patientin“, erwähnte aber mit keinem Wort seine eigene erotische Beziehung zu ihr. Obwohl diese Beziehung Freud ein unschätzbar wichtiges seelisches Material in die Hände legte und er, an ihr geschult, mitunter  seine Theorie der Übertragung und Gegenübertragung ausformulieren konnte, begegnen noch heute die Studenten der Psychoanalyse Sabina Spielrein lediglich in Freuds Fußnoten.  Das Ende dieser zu Unrecht etablierten Fußnotenkarriere haben bereits mehrere Bücher und ein Spielfilm im letzten Jahrzehnt herbeizuführen versucht. Sabina Spielrein war die erste Frau, die 1911 in Medizin mit einem psychoanalytischen Thema promovierte. Neben der Traumdeutung interessierte sie sich vor allem für Kinderpsychologie und wird heute als ihre „Pionierin“ bezeichnet. Als erste Psychoanalytikerin behandelte sie Kinder und erforschte auch das frühkindliche Verhalten vor allem bei ihrer ersten Tochter Renata, schrieb Abhandlungen und Aufsätze darüber, die sie u.a. in den psychoanalytischen Fachzeitschriften veröffentlichte. Ihre Heirat mit dem russischen Arzt Pawel Scheftel erfolgte plötzlich. Unter Mühen versuchte sie, sich während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz durchzuschlagen, arbeitete beispielsweise als Analytikerin in Berlin, am Genfer Institut Jean-Jacques Rousseau und folgte später doch ihrem Mann Pawel nach Russland, der ihr vorausgefahren war. Damit besiegelte sie ihr eigenes und das Schicksal ihrer beiden Töchter.

Die langerwartete Biographie von Sabine Richebächer spannt nun endlich einen großen Bogen zwischen Leben und Werk der Wissenschaftlerin Spielrein, deren Name Programm war. „Reynes schpil“ stammt aus dem Jiddischen und bedeutet „faires Spiel“. Wenn auch das Spiel ihres Lebens ein grausames Ende genommen hat und sie in ihrer Geburtsstadt, dem südrussischen Rostow am Don, 1942 mit schätzungsweise siebzigtausend anderen jüdischen Menschen von den einmarschierten Nationalsozialisten auf eine infame Weise in den Hinterhalt gelockt und ermordet wurde, ist sie bis zum Schluss ihren Idealen unter schrecklichsten Bedingungen treu geblieben. In vielem erinnert ihre Entschiedenheit und ihr kämpferischer Mut an die russische Dichterin Marina Zwetajewa, die in der anderen, in Stalins grausamer Diktatur ihr Herzland, ihre Hoffnungen und Visionen verlor und die 1941 in den Freitod ging, geplagt von Kälte und Hunger, die sie, neben der unerbittlichen sowjetischen Politik, in den Abgrund ihrer selbst stießen. Diese beiden Frauen verbindet noch eine andere Tragik, die zugleich aus der Rückschau (und wohl nur aus der Rückschau) ihren starken Drang nach bedingungsloser Freiheit symbolisch abschließt: Weder an Sabina Spielrein noch an Marina Zwetajewa erinnert ein Grabstein. Es ist bis heute nicht geklärt, wo sich ihre Gebeine befinden.

Das sich langsam abzeichnende Verbot der Psychoanalyse in Russland, erfolgt ist es endgültig im geschichtsträchtigen Jahr 1933, hatte Spielrein nur im Land selbst, vor Ort erkennen können. Damit ist ihre wissenschaftliche Karriere beendet, nicht einmal Kompromisse kann sie mehr machen, ihre Brüder lässt Stalin erschießen, die Träume ihres Vaters, einmal eine „Hochschule für Pflanzenkunde“ ins Leben zu rufen, wirken jetzt wie die Wünsche eines wirklichkeitsfremden Kindes. Die Anfänge der Psychoanalyse hatten in Russland, und auch das verdeutlicht dieses Buch auf eine sehr anschauliche Weise, ganz anders ausgesehen, die Wissenschaftler sahen ihre Aufgaben tief in der Gesellschaft verwurzelt und bewegten sich sehr nahe an der Friedensforschung, wie sie heute beispielsweise Alice Miller in ihren Büchern betont. Die Erforschung der Kinderseele wurde allerdings zeitgleich auch von der Politik entdeckt, die Ergebnisse missbraucht und somit der Manipulation der Weg geebnet. Spielreins Idee, die Welt des Kindes zu untersuchen und aus ihr fruchtbares Wissen für die sozialen Bewegungen zu schöpfen, verlor in der sie umgebenden Gesellschaft mehr und mehr an ihrer ursprünglichen Wirkkraft. Die Wissenschaft von der Seele wird von Stalin als reaktionär eingestuft und soll bei den Sowjets nichts mehr zu suchen haben. Von Apfelbäumen, die auch in Sibirien wachsen sollten, ist längst keine Rede mehr. Der „Neue Mensch“, der noch kurze Zeit zuvor ernsthaft gesucht worden war, wird jetzt tatsächlich an der Quelle seiner Freiheit – von seinem freien Willen her -„maschinisiert“ und muss sich unterordnen. Ganz entgegen der friedlich ausgerichteten Vision eines Leo Trotzki, findet fortan eine kaltblütige Gleichschaltung statt. Der Mensch werde, so hatte es Trotzki noch 1924 ausgedrückt, in einem Jahr, in dem alles noch möglich zu sein schien, endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren und „sich selbst zur Aufgabe machen“. Sabina Spielrein hat in ihrem Leben genau das versucht. Und doch bleibt ihre Biographie von einer wie ferngesteuerten Sehnsucht geprägt, die sie nie einlösen konnte. Die tiefgreifende Umgestaltung ihrer seelischen Schauplätze hat nie wirklich eine gesättigte Erfüllung gefunden. Sabine Richebächer setzt der Analytikerin ein tiefgründiges Denkmal, voller Feingefühl, Menschlichkeit und Zärtlichkeit. Mit großem Nachdruck zeichnet sie dieses bewegte Leben nach, bis in die „feinsten Nervenseiten“ hinein, von denen der Berliner Arzt Carl Ludwig Schleicher Anfang des letzten Jahrhunderts gesagt hatte und den die Biographin zitiert, auf ihnen spiele der Spielmann sein Gedicht: „Wohl fühlst du die Finger gleiten. Doch den Spielmann siehst du nicht.“ Sie hat diesem Spielmann mit ihrer durchdachten, sachlich fundierten Arbeit zur Erinnerung verholfen und ihren Lesern gezeigt, dass in jedem Menschenleben das „Schaltwerk der Gedanken“ mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft ist.

 

Sabine Richebächer: Sabina Spielrein – „Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft“. Biographie. 400 Seiten. Dörlemann Verlag, Zürich 2005

 

Text von 2005, publiziert in der Frankfurter Rundschau