21 Apr Gisela von Wysocki, Wir machen Musik
Wir machen Musik ist ein philosophisches Kopfarchiv, in dem Gisela von Wysocki eine Auslotung der Erinnerung mit ihren Fallstricken unternimmt. Es gelingt ihr dabei ein gleichermaßen furioses wie humorvolles Stück inneres Theater, das der Bühne des greifbaren Lebens wie ein wandelbares Gemälde gegenübersteht. Mit jedem gedachten Wort erschafft sich das hier betrachtende Kind die Welt neu, es lässt sich nichts von den Erwachsenen unterjubeln. Sein Blick und seine Deutungen sind betörend unkalkulierbar. Aber jeder Satz erzählt davon, dass alles Verwandlung und Übergang ist. Dabei handelt das Buch von konkreter Geschichte, von einem Vater etwa, der in den zwanziger Jahren in Berlin ein Pionier der frühen Shellack-Kultur war, von einer Mutter, die in den Wirren des Krieges unter den wachen Augen der Tochter den Hühnern eigenhändig den Kopf abhackt oder von einem russischen Soldaten, den der Krieg in die deutsche Hauptstadt verschlägt und der singend im Kind die Sehnsucht zu allem Russischen markiert. „Das Leben mit seinem Pipapo“ ist ein Zuarbeiter der Zeit in diesem Buch, die Brücke zu einer anderen Wirklichkeit ist aus einer Sprache gemacht, die dem Leser ganze Luftkontinente eröffnet; mit begehbaren kleinen Treppen, die dieses weise Werk so vergnüglich machen.
Gisela von Wysocki, Wir machen Musik. Geschichte einer Suggestion, Suhrkamp Verlag, 258 Seiten, Berlin 2012
Text von 2015, Buchreport